Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
Kinder sind und deshalb nicht immer gehorchen. Das ist doch normal. Wir haben nie etwas wirklich Schlimmes angestellt, nie. Dafür hatten wir viel zu viel Angst vor unserem Vater. Dass es nicht damit getan ist, sich nach einem Gewaltausbruch wieder und wieder zu entschuldigen und zu versprechen, dass so etwas nicht wieder vorkommen wird, solange ich seine Befehle befolge – er versteht es nicht. »Bring mich nicht in so eine Situation«, sagt er. Klack, klack. Diese Bilder in meiner Seele, die verschwinden nicht, weil jemand »Verzeih mir« sagt. Das ist es, was er nicht begreift. Er weiß nicht, was er seinen Kindern wirklich antut. Ich schlage nicht einmal einen Hund, wie kann jemand sein eigenes Kind schlagen? Menschen, die so etwas tun, haben es meiner Meinung nach nicht verdient, dass man ihnen verzeiht. Nicht einmal eine einzige Ohrfeige.
Jugend im Gym
Mein Sport, mein Vater, meine Familie: Daraus bestand meine Jugend. Ich war nie das, was man eine normale Jugendliche nennen würde, da sich der Lebensstil meiner Kindheit nahtlos fortsetzte. Abhängen mit Freunden, mit Klassenkameraden in die Disco gehen, Hobbys pflegen, mit den Mädchen in die Stadt zum Shoppen oder auch mal mit einem Jungen zum Eisessen gehen – das alles gab es in meinem Leben nicht. Ich hatte keine Freunde mehr. Und das fiel mir damals nicht einmal auf. Mir fehlte nichts. Für Freunde und andere Hobbys hätte ich ohnehin keine Zeit gehabt.
Ich durfte zwar die Musik hören, die mir gefiel, aber in meinem Zimmer keine Poster aufhängen. Damals war ich riesiger Backstreet-Boys-Fan und habe jeden Schnipsel über die Backies gesammelt, aber ein Plakat an der Wand – undenkbar. Dabei war ich nur Fan, die Jungs waren nicht meine Vorbilder. Ein Idol hatte ich nämlich nie und habe auch bis heute keines, weder im Sport noch sonst im Leben. Ich bewundere »Prince« Naseem Hamed, den britischen Boxer, wegen seiner Lebensgeschichte und seines Boxstils. Aber ich habe nie gesagt, dass ich das erreichen will, was er erreicht hat. Mich an jemanden zu klammern und zu versuchen, ihn oder sie nachzumachen, das würde für mich nicht funktionieren. Ich bin beim Boxen meinen eigenen Weg gegangen und im Leben sowieso, einfach weil mir nichts anderes übrig blieb.
Fast jedes Wochenende waren wir bei einem Lehrgang oder Wettkampf, und wenn es nicht Boxen war, dann war es eine Turnveranstaltung meiner Schwester. Wenn der Austragungsort weiter weg lag oder sogar im Ausland, dann hängten wir als Familie ein paar Tage Urlaub dran und schauten uns die Gegend an. So habe ich halb Europa gesehen.
Unter der Woche hatte ich Schule und dann fast jeden Tag Training. Ich wechselte zur elften Klasse von der Realschule aufs Gymnasium. Meinen Eltern war wichtig, dass wir Mädchen Abitur machten. Weil es eine Sportförderschule war, ging das auch prima. Wer zu Wettkämpfen musste und deshalb in der Klasse fehlte, bekam gezielt Nachhilfeunterricht. Leider waren keine anderen Kampfsportler auf dieser Schule. Turner wie meine Schwester und ihre Freundinnen, ein paar Handballer, Basketballer, Fußballer. Die anderen Sportschüler waren zu meinem Bedauern alle jünger als ich, sodass sich mit ihnen keine echten Freundschaften ergaben. Ich war zwar die Erfolgreichste von allen, bekam aber nicht von Anfang an die gleiche Förderung, weil niemand etwas mit Kampfsport anzufangen wusste. Meine Eltern mussten mit ihren Beschwerden deswegen bis zum Kultusministerium gehen.
Auf dem Gymnasium fand ich ebenfalls keine richtigen Freundinnen in meinem Alter. Wie auch, ich durfte ja auf keine Partys gehen und sogar bei den Klassenfahrten nicht mitfahren. Das erste Schullandheim in der Grundschule und die Abiturfahrt nach Barcelona waren die einzigen Fahrten, an denen ich teilnehmen durfte. Alle anderen, also die entscheidenden in der Teenagerzeit, habe ich verpasst. Natürlich wäre ich gerne dabei gewesen, aber mein Vater redete dann immer auf mich ein und mahnte, dass ich doch nicht eine ganze Woche Training verpassen könne. Oder er erinnerte mich daran, dass ich in dem einen oder anderen Fach eine schlechte Note erhalten hatte und doch besser nachlernen sollte. Im Grunde wusste ich damals schon, dass das nicht in Ordnung war und es dabei nicht um mich, sondern um seinen Kontrollzwang ging. Er wollte mich einfach nicht gehen lassen. Ich könne doch all das nachholen, wenn meine sportliche Karriere irgendwann beendet sei, beruhigte mich mein Vater. Dass meine Jugend und meine
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