Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
der 13. wurde es wirklich schwierig. Ich war mittlerweile 19 Jahre alt und schon in der Box-Nationalmannschaft, hatte also wenig Zeit für die Schule und merkte, dass die Gymnasiasten mir als Realschülerin doch um eine Nasenlänge voraus waren. Außerdem waren die meisten Lehrer in den entscheidenden Fächern absolut gegen meinen Sport und gaben mir keinen Freiraum. Daher musste ich in der Schule im letzten Jahr vor dem Abitur auch noch eine Ehrenrunde drehen.
Wieder wollte ich, wie schon damals mit 16 bei dem Angebot des Kölner Boxstalls, die Schule am liebsten abbrechen, aber meine Eltern bestanden weiter auf dem Abi. Egal, welcher Notendurchschnitt, aber Hauptsache, Abitur. Mir war klar, dass ich nicht studieren und keine Berufsausbildung machen würde, aber trotzdem hatte ich so ein Bauchgefühl, dass das Abitur wichtig sein könnte. Heute bin ich froh, dass ich durchgehalten, auch diesen Kampf gewonnen und seit 2005 mein Abitur in der Tasche habe.
Meine Freiheit wurde dadurch jedoch nicht größer. Sofort nach dem Abitur wechselte ich von den Amateuren in den Profi-Boxsport. Zu dieser Zeit wurde mein Vater mein Manager. Es gab ja keinen ernst zu nehmenden Boxstall, der mich unter Vertrag genommen hätte, obwohl ich jetzt überall vorboxte. Damals als Schülerin hatte mein Vater mir nicht erlaubt, den Vertrag aus Köln zu unterschreiben, jetzt bekam ich keinen Vertrag mehr, sondern kassierte eine Ablehnung nach der anderen. Und den Kölner Boxstall gab es schon nicht mehr.
Für alles und jedes musste ich in dieser Zeit meinen Vater um Erlaubnis fragen. Ich hatte nur eine einzige richtige Freundin, und wenn sie anrief, um mich zu fragen, ob ich mit ihr in der Stadt einen Kaffee trinken wollte, musste ich erst auflegen und meinen Vater fragen. Das ging so, bis ich fast 23 Jahre alt war. Stets brauchte ich seine Zustimmung. In die Disco durfte ich ohne ihn auch erst im Alter von 20 Jahren. Das lief dann so ab, dass unser Vater meine Schwester und mich zur Disco brachte, uns dort zwei bis drei Stunden allein ließ und dann wieder abholte. Er meinte immer, das sei reine Fürsorge. »Ich habe Angst um euch«, beteuerte er. Weil er selbst immer wieder einmal als Sicherheitsmann gearbeitet hatte, kannte er die meisten Sicherheitsleute in den Discos, und die mussten dann immer ein Auge auf uns haben. Von 20 Sicherheitsleuten hatten bestimmt 19 die Handynummer meines Vaters, und so stand ich auf Schritt und Tritt unter Beobachtung. Das war sie, die völlige Kontrolle meines Vaters.
Vertrauen gab es keines, dafür umso mehr Überwachung, je älter ich wurde. Das Ganze steigerte sich in Extreme, die schier unerträglich wurden. Dabei war ich eigentlich schon eine erwachsene Frau. Eine Zeit lang etwa arbeitete mein Vater in Stuttgart, oft in der Nachtschicht, bis sieben Uhr früh. Wenn ich morgens in Ulm aus dem Haus ging, musste ich ihn trotzdem anrufen und mitteilen, dass ich jetzt ging, das war ihm wichtiger als sein Schlaf. Und wohin ging ich? Ich fuhr meinen kleinen Bruder zur Schule, jeden Morgen um 20 vor acht. Ich musste also Papa wecken und sagen: »Lieber Papa, ich fahre jetzt Bassam zur Schule.« Das dauerte eine Viertelstunde. Dann musste ich erneut anrufen und sagen: »Lieber Papa, ich bin jetzt wieder zu Hause.« Um 9.30 Uhr begann mein Training, da war es dasselbe Spiel. Wenn er einmal nicht ranging, musste ich ihm eine SMS schreiben, damit er, wenn er aufwachte, lesen konnte: »Lieber Papa, ich gehe jetzt zur Physiotherapie.« Oder: »Lieber Papa, ich bin jetzt fertig mit der Physiotherapie und gehe jetzt zum Einkaufen und bringe meiner Mutter dies und das mit.« Er verlangte, dass ich ihm meinen gesamten Tagesablauf live protokollierte.
Meine Mutter musste das nicht machen, aber sie war ja fast nie außerhalb der Wohnung. Mit meiner Schwester war er nicht ganz so streng, aber er wollte auch von ihr immer wissen, wo sie war. Je älter ich wurde, desto schlimmer wurde sein Kontrollzwang, und zwar in allen Lebensbereichen. Sein Hang zum Extremen zeigte sich jetzt in der Überwachung jedes Schrittes, den ich tat. Ich überlegte eine Zeit lang, ob ein Sportstudium in Köln eine Option für mich sein könnte, weil das Frauenboxen in Deutschland doch nicht so weit entwickelt war, dass es ein ganzes Leben tragen konnte. Da ich die Sporthochschule und auch die Studiengänge sehr interessant fand, sprach ich das Thema zu Hause an. Mein Vater tobte und sagte, er könne mich doch nicht alleine dort hinschicken.
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