Steile Welt (German Edition)
nach dem Verlorenen. Einmal mehr entschädigt der Rundblick hier oben jedoch jeden einzelnen Tritt. Die gegenüberliegenden Hänge atemberaubend schön, der Blick in die Tiefe schwindelerregend.
So hat der heutige Tag doch seinen Sinn. Das Ziel aber ist noch nicht erreicht. Die Füsse wollen weiter. Das gute Wetter zieht bergwärts. Der Wald wird lichter. Fichten mit silbrig schuppigen Stämmen stehen in ihrem Bett von Heidelbeerstauden. Der Monte Zucchero rückt ins Bild.
Dann weiter zwischen Alpenrosen und Wachholder, welche die Felsbrocken umwachsen, die eine Übermacht vor Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten talwärts geschmissen hat.
Nichts kreuzt den Weg ausser den zahlreichen Ameisenstrassen, die von Haufen zu Haufen führen. Kegel, manchmal bis zu einem Meter Höhe. Die vorausgehenden Wandervögel lässt man ziehen. Der eigene Trott wird vorgezogen und die eigenen Gedanken, die sich in der dünnen Luft zu Sätzen verfestigen. Der Himmel immer noch vorherbstlich klar und blau, unterlegt vom Wind, der den Schweiss trocknet.
Auf der Alp Salei Gasosa zu Formaggini und come dolce der Gang auf den Zuckerberg. So umsichtig wird man lange nicht mehr sein. Todesmutig wird später die Funivia bestiegen, die, wie von Geisterhand gelenkt, losfährt und einen über Baumwipfel, Felsen und Abgründe hinunterträgt. Die Talfahrt in der Gondel so teuer wie das letzte Mittagsmahl, doch damit hat man sich einen langen Weg erspart und sich eine Stunde Warten auf das Postauto verdient. So könnte man meinen. Denn kaum ist das Bier ausgetrunken und bezahlt, fährt ein bekanntes Auto vorbei. So weitläufig das Tal, so klein ist doch diese Welt. Ein fremdes Gesicht, zumal es einigermassen freundlich schaut, wird bei der zweiten Begegnung bereits als vertraut erachtet. So vertraut, dass beide Seiten nicht zögern, eine gemeinsame Fahrt zu wagen.
«Wartest du auf die Post? Komm, steig ein, ich fahre nur rasch nach hinten, zur Cascina, etwas trinken, dann wieder nach Hause. Fahr doch einfach mit, dann bist du früher wieder daheim. Lass das mit der Gurte. Hier bindet sich niemand an.
So weit hinten warst du hier sicher noch nie, höchstens bis zur Funivia. Ist ein schönes Restaurant, hier. Siehst du, aber auch dieses ist zu verkaufen. Sie vermieten auch Zimmer an die Wanderer. Aber nicht einmal heute, an einem schönen Sonntag im Juli, hat es viele Leute. Wie soll das denn rentieren. Ein paarmal im Jahr spielen wir hier Scopa, ein Kartenspiel. Dafür muss man zu viert sein. Wenn wir zu dritt sind, dann wird nur geredet, bei einem Glas Wein, und etwas gewartet, ob noch ein Vierter kommt. Natürlich nur im Sommer. Ende Oktober machen sie zu.
Pilze hast du wohl keine gefunden. Am Weg findet man sie selten, und abseits ist es schon ein bisschen gefährlich.»
Der in- und auswendig gepflegte Subaru viermalvier rollt ohne Hast den Schlangenlinien entlang. Man fühlt sich sicher. Mit beiden Hände fest am Steuer, den Blick aus den listigen Schweinsäugelein auf die Kurven gerichtet, darauf bedacht, was einem dahinter vor die Räder geraten könnte, wird der Fremden gezeigt, was hier des Sehens würdig ist. Auf der nicht wenig stolzgeschwellten, sonnenverbrannten Brust, zwischen einem Rest ergrauter Brustbehaarung, das goldene Stierkreiszeichen. Der vorletzte Hemdknopf bleibt geöffnet zwecks besserer Sichtbarkeit. Dieser Nachbar ist der gute Geist im Dorf. Verbreitet beim Herumfahren die Neuigkeiten im Tal. So wird man bekannt gemacht.
Man kann sich aber auch brüsten in diesem Dorf mit seinen Neuzugängen, die als Beweis für Gastfreundschaft und Offenheit des Ortes herhalten müssen. Hier willkommen und aufgehoben zu sein bedeutet, dass der Nachbar, von der Neugier getrieben, fast täglich am Eingang steht mit der Nachfrage, ob alles in Ordnung sei. Den Grappa, der einem fehlt für den Kaffee, bringt er ein fach selber mit. Ein nicht uneigennütziges Antrittsgeschenk. Aber es begünstigt die Freundschaft und erhält sie, auf lange Sicht.
«Hier ginge es weiter zu den Steinbrüchen. Die Strasse ist dann nicht mehr geteert. Mit dem Auto ist das nicht mehr angenehm. Aber mit den schweren Lastwagen fahren sie da hoch. Von der einen cava werden alle Steine nach Italien geliefert. Zweimal am Tag fährt eine Ladung dorthin. Und die anderen Steinbrüche, die liefern in die ganze Welt. Steine für Platten, Mauern, Gebäude, Strassen, was weiss ich. Er ist gefragt, unser Granit. Fast jeder kennt den Begriff Onsernone. Setzt ihn gleich
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