Steile Welt (German Edition)
mich oft gefragt, woher sie das immer so genau wusste. Sie konnte auch immer genau sagen, in welche Richtung ich gehen musste, um sie zu finden. Meistens waren sie aber bereits auf dem Rückweg, ihre Euter waren voll und schmerzten. Nie musste ich nach ihnen suchen. Ich vermute, sie schickte mich los, damit ich das Gefühl bekam, ich hätte eine Aufgabe, die ich erst noch zu ihrer Zufriedenheit erfüllen konnte. Ich glaube nämlich nicht, dass ich ihr eine echte Hilfe war. Sie kam gut allein zurecht. In einem der Jahre hatte ich am Morgen nur diese eine Aufgabe: Geh und such das Ei. Die Henne hatte die Angewohnheit, ihr Ei irgendwo in der Nähe des Hauses zu legen. Nie zwei Tage hintereinander am gleichen Platz. Die Verstecke zu finden, dauerte oft bis zum Mittag. Mit diesem Huhn wurde auch nicht gesprochen, höchstens geschimpft. Ob das Huhn nun deswegen seine Eier verlegte, oder ob sie nicht mit ihm redete, weil es das tat, ist auch wieder so eine Huhn-oder-Ei-Frage.
In einer Nische in der Wand stand die Madonna mit dem Kind. Ihnen stellte sie fast täglich frische Blumen hin, an manchen Tagen entzündete sie sogar die Kerze. Aus welchem Grund, hat sich mir nie erschlossen. Für mich waren es keine besonderen Tage. Das wahre Heiligtum meiner Grossmutter aber war der Gemüsegarten. Ihm galt der erste Gedanke am Morgen und wahrscheinlich der letzte beim Einschlafen nach dem Bettgebet. Das wichtigste an diesem Garten war der Zaun. Ohne ihn hätte man das Pflanzen lassen können. Er hielt die Ziegen, aber auch das Wild fern, das in kargeren Zeiten gern in die Nähe der Häuser kam. Jedes Mal, wenn ich etwas holen musste aus diesem Garten, vergewisserte sie sich, dass ich das Türchen wieder zugemacht hatte.
Was immer Grossmutter in diesem Garten tat, sie tat es mit Hingabe. Sie zupfte Unkraut, und einem eigenen, inneren Plan folgend, wusste sie immer ganz genau, was wann zu setzen, säen oder zu ernten war. Am meisten fürchtete sie die Unwetter und den Hagel. Da stand sie dann am Fenster. Ich sehe das noch vor mir, wie sie im flackernden Blitzlicht stand. Dann sah sie zum Garten hinunter und murmelte vor sich hin, als würde dies etwas nützen. Dass ich mich vor dem Gewitter mehr fürchtete als die Tomaten, nahm sie nicht wahr. Dafür war mir nicht bewusst, dass von diesem Garten und seinen Erträgen ein grosser Teil ihrer Existenz abhing. Nach dem Regen sammelte sie die Schnecken ein, die kleinen, grauen, ohne Häuschen. Mit der Zeit überliess sie dies mir. Ich brachte ihr dann den Eimer, und sie goss kochendes Wasser hinein. Dann verschüttete sie diese Brühe rund um den Garten. Wohl zur Abschreckung. Genützt hatte das wohl nicht sehr viel, denn die Schnecken kamen immer wieder.
Sie ging mit der Zeit. Ohne Uhr oder Kalender. Manchmal blickte sie beim Heuen zur Strasse hinab. È in ritardo, il postale. Ein paar Minuten später brummte dann das Postauto vorbei. Hupte zum Gruss, wenn der Fahrer uns erblickte.
Ich kann mich nicht erinnern, dass es ihr auch nur einmal ins geschnittene Gras geregnet hat. Mit dem Wetter, da kannte sie sich aus. Am Heuen war man eigentlich die ganze Zeit, wenn es schön war. War man mit der einen Fläche fertig, ging es mit dem Hang daneben weiter, und wenn man mit dem letzten fertig war, fing man mit dem ersten wieder an. Schneiden, sie mit der Sense, ich mit der Sichel, verteilen, wenden, wieder wenden, zusammenrechen. Wir trugen das trockene Heu mit den Hutten hinunter zum Haus. Da dieses in den Hang hinein gebaut war, konnte man von hinten direkt durch die Türe unters Dach gelangen. Ich mochte diesen Raum, düster und doch luftig, die Luft erfüllt vom Geruch der dürren Kräuter. Die Wespennester an den Balken wurden nicht beachtet. Die Grossmutter hatte ein Abkommen mit den Tieren. Wir lassen einander in Frieden. So kamen sie sich nicht in die Quere.
Am Sonntagmorgen gingen wir in die Kirche, abwechslungsweise ins untere und ins obere Dorf. So kam man wöchentlich zu den wesentlichen Neuigkeiten. Nach der Messe wurde auf dem Dorfplatz nämlich Klatsch ausgetauscht. Warum der Umberto sich nicht mehr blicken liess, wie das neue Kind der Antonia hiess oder wessen Mais am höchsten stand. Wir Kinder bespritzten uns derweil am Brunnen, zogen die Schuhe aus und stiegen hinein, bis das Gerede ein Ende hatte und man sich auf den Heimweg machte. Da gab es dann Kaffee. Mit Milch und Zucker. Nur am Sonntag.»
Am Sonntag ist Besuchstag. Da kommen selbst die Angehörigen, die von weiter
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