Steile Welt (German Edition)
kaufen. Im Winter wäre das manchmal sicherer. Aber für Notfälle habe ich immer die Ketten dabei.
Die Strasse ist die Nabelschnur zur Aussenwelt. Sie versorgt das Tal mit dem Notwendigen. Bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts waren die Dörfer hier im Tal nur zu Fuss zu erreichen. 1780 wurde ein Pfad bis nach Russo zum Maultierpfad erweitert. So konnte man die Waren wenigstens mit den Tieren befördern und musste nicht mehr alles selber tragen. Man stelesich das einmal vor. Ein paar Jahre später wurde weiter gebaut, bis nach Comologno. Das interessiert mich. Es gehört zu meiner Geschichte, zu meinen Wurzeln, auch wenn ich solches nicht erlebt habe, so hat es mich doch sicher in irgendeiner Weise geprägt. 1860 wurde dann endlich die Strasse gebaut. Wiederum vorerst nur bis zur Talmitte. Fünf Jahre später wurde dann das hintere Tal erschlossen.
Die befahrbare Strasse liegt höher als der Maultierpfad, auf gleicher Höhe wie die Dörfer. An manchen Stellen kann man den alten Weg noch erkennen, wenn man durch die Bäume in die Tiefe blickt, ihn sogar ein Stück weit gehen.
Nachdem die Postkutschen, erst ein-, dann zweispännig, ausgedient hatten, bekam das Onsernonetal 1916 das erste Postauto mit zwölf Sitzplätzen. Welch ein Fortschritt. Man kam damit schneller voran als mit der Kutsche, diese brauchte nämlich ungefähr fünf Stunden für den ganzen Weg von Locarno bis nach hinten, und mit Sicherheit war es auch weniger gefährlich. Ich kann mir vorstellen, dass es manchmal sicher etwas kritisch wurde, diese schmale Strasse mit den engen Kurven mit Pferden zu befahren. Mit dem ersten Postauto war sicher wieder ein weiterer Schritt Richtung Öffnung des Tals erreicht. Was aber wahrscheinlich nicht bedeutete, dass nun die Fremden in Scharen angefahren kamen. Es war ja auch keine Durchgangsstrasse, ist es immer noch nicht. Wer sie hochfährt, nimmt den gleichen Weg auch wieder zurück.»
Wo, wenn nicht auf dem Parkplatz, nimmt diese Begegnung ihren Anfang. Wann, wenn nicht nach Feierabend. Den Einstieg findet man über Autos und Verkehr. Er fällt auf, der junge Mann, der jeden Werktag am frühen Abend die letzte Kurve nimmt bis fast vor den Hauseingang, darin verschwindet und sich die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht mehr blicken lässt, bis er mit seinem schnittigen Golf erneut auftaucht. Die dumpfen Bässe seiner Musikanlage verraten seine Ankunft. Das blau flimmernde Licht hinter den Vorhängen in der Dunkelheit seine Anwesenheit. Am Morgen ist das Auto wieder fort.
«Mein Leben ist keine Sackgasse, auch wenn man das so sehen könnte, wenn einer die ganze Zeit hier bleibt, in diesem Tal. Vielleicht sind meine Grenzen etwas enger gesteckt als bei anderen, wer weiss. Mir gefällt es aber so, und ich möchte nirgendwo anders sein. Ich bin bei meiner Grosstante aufgewachsen. Meine Mutter war krank und konnte sich nicht um mich kümmern. Also kam ich hierher, ging hier zur Schule, machte unten meine Ausbildung und zog wieder hierher zurück in dieses Haus, als meine Grosstante starb. Schon zu meiner Zeit waren wir nicht mehr so viele Kinder in der Schule wie zur Zeit meiner Eltern, als die noch Kinder waren. Unsere Eltern zogen ja bereits in ihrer Jugend von hier weg, arbeiteten irgendwo in der Schweiz, wo sie dann auch mit ihren Familien lebten. Ich war da eher die Ausnahme. Eben darum, weil ich bei meiner Grosstante aufwuchs, die immer hier gelebt hatte. Schon zu meiner Zeit wurde die Schule im hinteren Dorf geschlossen, und es gab für die Kinder des oberen Tals nur noch diese eine in der Mitte. Dort wurde dann später das grosse Centro Sociale gebaut, wo Altersheim, Schule, Gemeinschaftsräume und der Arzt an einem Ort vereint sind.
Wir Kinder des Tals wurden am Morgen mit dem Schulbus eingesammelt und hinuntergefahren. Am Nachmittag brachte man uns wieder heim. Zu essen gab es in der Schule. Das ist heute noch genauso. Nur essen sie jetzt im Centro. Ganze Menus, gesunde, mit Gemüse, Fleisch, Salat und allem. Jetzt hat es vielleicht noch zwanzig Kinder aus dem oberen Tal, die dort die Schule besuchen. Die Kinder aus dem unteren Tal gehen nach Loco. Die Schule für die grösseren ist dann unten, in Losone.
Ich arbeite auch dort unten. Mir ist eine Anstellung mit festen Arbeitszeiten lieber. Natürlich könnte man sich auch selbständig machen. Als guter Handwerker, beispielsweise als Maurer, findet sich immer und überall etwas zu tun. Aber man ist halt abhängig von den Arbeitgebern. Muss
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