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Steile Welt (German Edition)

Steile Welt (German Edition)

Titel: Steile Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stef Stauffer
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sträuben sich. Ein tiefes Knurren dringt aus seinem Innern. Draussen geht ein Fremder vorbei, wird wahrgenommen, aber nicht weiter beachtet. Als er zwei Stunden später noch einmal ums Haus streift, dann schon. Seltsame Fragen stellt er. Das T-Shirt trägt er unter dem Arm. Und schliesslich, ob man allein sei. Entgegen der Gewohnheit wird am Abend die Tür verriegelt. Ansonsten ist man frei von Ängsten. Das Alleinsein, vor dem man sich im Vorfeld am meisten gefürchtet hat, ist nicht dasselbe wie Einsamkeit. Die Nachbarn verfolgen das eigene Tun, weniger, um die Neugier zu befriedigen, vielmehr haben sie eine Art von Aufpasserrolle übernommen. Die alleinlebende Frau mag in alten Zeiten an der Tagesordnung gewesen sein, im hiesigen Dorf zu heutiger Zeit löst sie anfänglich so etwas wie Befremden aus. Doch die Fragezeichen in den Augen bleiben unausgesprochen. Ein unsichtbarer Schutz liegt seitdem über dem eigenen Haus, es ist ein Eingebettetsein in die Dorfgemeinschaft. Nicht viel kann einen mehr schrecken.
    Das rollende Geräusch, das man wahrnimmt, wenn am gegenüberliegenden Hang ein Tier einen kleinen Felssturz auslöst, ist vertraut geworden. Ebenfalls der Ruf des Kauzes, der anfänglich noch Schauder über den Rücken treibt. Das Ächzen der Dachbalken, die sich in der nächtlichen Kühle entspannen und sich von der Sommerhitze erholen, löst kein Erschrecken mehr aus. Das schafft nur noch die lange, schwarze Schlange, die sich ab und zu auf der Treppe sonnt. Nur die durchdringenden Schreie der Marder, die sich zwischen den Häusern streiten, reissen einen aus dem Schlaf. Dass sie ihre Geschäfte nicht mehr vor der Haustüre machen, verdankt man den wassergefüllten PET-Flaschen. Man übernimmt die hiesigen Gepflogenheiten und ist nicht erstaunt, dass sie ihren Zweck erfüllen.
    Während im vorderen Sommer die Ameisen den häuslichen Frieden gestört und ihren Strassenbau Richtung Küche gelenkt haben, sind es in diesem Jahr die Wespen. Ohne Sinn und Verstand greifen sie an und fliegen gesenkten Hauptes, so kommt es einem vor, wie kleine fliegende Stiere in Richtung des roten Tuches. Flucht ist die einzige Verteidigung. Der Fliegenvorhang macht es möglich. An ein Essen an der Sonne ist nicht zu denken. Nicht alle sind bereit zu teilen. Selber wäre man es.
    Der Hexenschuss hat sich gelöst.
    «Meine Grossmutter, die hatte den sechsten Sinn. Die sagte zu mir, heute mähen wir kein Gras, der Regen kommt. Dabei war der Himmel noch blau. Aber sie hatte immer recht. Das sagt mir mein linkes Bein, meinte sie dann, oder es kribbelt in den Fingern. Sie lebte allein, und ich war nur manchmal dort in den Ferien. Eine Tochter brachte sie zur Welt. Deren Vater hatte sie nicht einmal gesehen. Er kam um bei der Arbeit, irgendwo in Italien. Auf einer Baustelle glaube ich. Das einzige, was die Grossmutter von ihm hatte, war dieses Kind und einen Bund Briefe. Sie müssen sehr ineinander verliebt gewesen sein. Das Bündel war dick. Und gekannt hatten sie sich nicht sehr lange, bevor sie ihn heiratete, bevor eine andere ihn genommen hätte, die nicht so abgelegen lebte. Leider sind diese Briefe verloren gegangen. Nur ein Paar Sonntagsschuhe sind von ihm übrig geblieben. Die hat sich mein Grossvater von seinem ersten Lohn machen lassen. Er hat sie aber nie getragen. Sie haben ihn gereut. Nun stehen sie da und werden nicht gebraucht. So sagte die Grossmutter immer. Denn sie wollte keinen Mann mehr, und wenn dann doch einer gekommen wäre, wer weiss, ob ihm die Schuhe gepasst hätten.
    Rente gab es damals noch keine. So musste sie schauen, dass sie mit dem Kind allein zurechtkam. Manche wollten auch gehört haben, sie wäre eigentlich ganz froh, nur zwei Mäuler stopfen zu müssen. Das Schicksal hätte es doch ganz gut mit ihr gemeint. Wenn man die schwierigen Umstände bedachte, unter welchen sich die grossen Familien über Wasser halten mussten. Da hatte sie sicher recht. Das spürte ich später selber am eigenen Leib. Ich hatte ja selber diese vielen Kinder zu ernähren.
    Beizeiten schickte sie ihr Kind, das war ja meine Mutter, dann weg. Es sollte einmal ein besseres Leben haben. Ich, die Enkelin, bin zurückgekommen. Habe hier im Tal meinen Mann gefunden, ausgerechnet in den Ferien.»
    Das Mädchen, heute an die zehn Mal älter als zu jener Zeit und inzwischen selbst Urgrossmutter, im Geist noch ebenso wach und frisch wie damals, trägt schwer an seinem betagten Körper, dessen Beine ihn nicht mehr tragen wollen. Die

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