Steile Welt (German Edition)
Vitalität wurde von den Jahren gestohlen. Leicht fällt die Erinnerung an die frühen Zeiten, leichter, als zu sagen, welcher Tag denn gestern war.
Ein kleines Zimmer, Tisch und Bett, daneben ein Nachtkästchen mit dem Bild eines Hochzeitspaars mit strengen Gesichtern. Es gibt nichts zu lachen. Der Ernst des Lebens hat begonnen, nun heisst es, sich zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod. Und der Tod hat, vor Jahren schon. Da war man dann allein. Erst erziehend, dann lebend, stehend, jetzt alternd. Um nicht zu sagen vergehend. Aber es ist nicht der Mann, der fehlt. Es ist die Beweglichkeit, die erlaubte, das zu tun, wonach der Sinn steht. Jetzt braucht es dafür fremde Hilfe. Fremde Hände, von denen man angefasst wird, wenn man an der Reihe ist. So wird viel gewartet. Darauf, dass jemand kommt und einem die Welt in Bewegung setzt. Oder auf den, der einen mitnimmt, für immer.
«Irgendwie war es ihr, der Grossmutter, nicht recht, dass ich bei ihr einem begegnete, den ich haben wollte und er mich. Und dennoch war sie ein bisschen stolz. Darauf, dass auch ich hier meine Heimat fand. Als ich ihn aber dann endlich heiratete und hier zu wohnen kam, lebte sie schon nicht mehr. Ihr Haus stand von da an leer. Es wäre auch zu klein gewesen, um mit einer Familie dort einzuziehen. Mein Mann konnte ein grösseres haben. Grossmutter bewohnte bloss einen einzigen Raum. Das war verständlich. Diese feuchten Steinhäuser waren schwer warm zu bekommen. Ihr Leben fand rund um das Feuer statt. Tisch, Bett und Küche, alles in einem Zimmer. Darunter lagen der Keller und der Stall. Sie hatte zwei Ziegen und ein Huhn. Diese deckten ihren Bedarf an Milch und Eiern. Das Huhn lebte mit ihr im Wohnraum. Manchmal nahm sie es auf den Schoss und streichelte es. Das hatte sie mit mir nie gemacht. Ich glaube, es war so gut erzogen, dass es rausging, um sein Geschäft zu verrichten. Ich bemerkte nie Hühnerdreck. Ich wunderte mich, wie alt ein Huhn doch werden konnte. Und dass es von Jahr zu Jahr eine andere Farbe hatte. Es kann die Farbe wechseln, bekommt immer im Frühling neue Federn. Eine Zeit lang glaubte ich das noch. Sie sprach auch mit ihm, eine Angewohnheit, die ich nie verstehen konnte. Ich fand das unter der Würde eines Menschen, sich mit einem Tier zu unterhalten. Es gab ja nicht einmal Antwort. Doch oft sagte sie zu mir, das hätte ihr die Gallina gesagt. Dann, wenn sie beispielsweise wusste, wo ich mich den ganzen Nachmittag herumgetrieben hatte. Dann hasste ich dieses Huhn, das mich verraten hatte.
Unten an der Fontana wurde Wasser geholt. Immer morgens, zwei Eimer. Die mussten reichen für den ganzen Tag. Teller und Löffel wurden abgeleckt, da brauchte man kein Wasser. Ich schaute immer sehr darauf, welches mein Geschirr war. Es ekelte mich nämlich schon ein wenig. Allein der Mund war nichts Schönes zum anschauen. Die Zähne waren schief und braun. Mit einer grossen Lücke dazwischen. Am Abend wusch sie mich gründlich. Dann steckte sie mich ins Nachthemd, und ich schlüpfte unter die Decke. Musste mich zur Wand drehen. Dann wusch auch sie sich. Das erspart viel Wäsche, wenn man sauber zu Bett geht. Das war ihre Begründung. Zu waschen gab es aber nicht viel. Ein Leintuch bedeckte den prall gefüllten Laubsack, mit einem zweiten Leintuch deckte man sich zu, damit die raue Zudecke nicht zu fest kratzte. Das dünne Nachthemd schützte wenig. Natürlich blinzelte ich immer in ihre Richtung, wenn sie sich umzog. Eigentlich nur, weil sie so ein Geheimnis daraus machte. Viel gab es aber nicht zu sehen mit diesen vielen Röcken und Hemden. Sie zog sich ihr Nachthemd über. Und ich sah dabei nicht einmal ihre nackten Arme. Das Nachthemd war weiss, ebenso ihre Unterröcke und -hemden. Tags sah man sie nur schwarz gekleidet. Die Röcke gingen bis zum Boden. Auch im Sommer. Langärmlig und mit Kopftuch, anders habe ich sie nie gesehen. Das graue, dünne Zöpfchen sah ich nur am Abend und manchmal beim Aufstehen. Aber meistens war sie bereits aus dem Bett, wenn ich erwachte. Im Winter trug sie einen dickeren Rock und mehrere Unterröcke. Zu jeder Jahreszeit eine Schürze über allem. An den Werktagen die geflickte und am Sonntag die weniger geflickte. Dazu die schweren, geschnürten Schuhe und ein Tuch um die Schultern, wenn es kälter war. Ich fand es immer erstaunlich, wie die Nonna sich mit diesen Röcken in ihrer ganzen Behäbigkeit so behände bewegte an den Berghängen. Zwar immer bedächtig und auf jeden Schritt achtend, aber
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