Steile Welt (German Edition)
Gämsen darf man schiessen. Die Hirsche und Rehe sind nicht begrenzt. Bei der Jagd ist es wichtig, dass man sich auskennt hier in den Bergen. Sonst wird es gefährlich. Ich bin nur einmal in eine prekäre Situation geraten. Da kam ich vom Weg ab und konnte weder vor noch zurück. So habe ich mich abgeseilt. Auf der Jagd hat man zum Glück immer ein Seil dabei. Ohne das hätte ich nicht mehr weitergewusst. Zwar kenne ich mich gut aus hier in der Umgebung und oben in den Bergen, trotzdem sollte man die Wege nicht verlassen.
Hier kann jeder seinen eigenen Weg gehen, machen was er will und so, wie er es will. Es hat Platz für jeden. Sogar im Sommer, wenn die Strassen in den Dörfern verstopft sind, sind längst noch nicht alle Häuser bewohnt. Es könnten noch viel mehr kommen, von dem her gesehen. Die Leute kommen und gehen, manche bleiben, manche nur für eine Zeit. Das gibt immer etwas zu reden im Ort, wenn ein neues Gesicht auftaucht und länger bleibt als nur gerade ein paar Tage, oder sogar wieder und wieder kommt. Natürlich wird geredet. Man nennt das hier Radio Onsernone. Mich kümmert das nicht. Ich bin auch nicht einer, der am Feierabend in den Beizen sitzt. Lieber bin ich allein. Ich bin gern allein, das war schon als Kind so. Habe mich mit den eigenen Dingen beschäftigt, ohne mich zu kümmern, was andere davon halten. Ich muss es niemandem recht machen.
Als ich Kind war, war dies hier eine kleine Welt. Man kannte das Dorf, war unterwegs im Tal, selten kam man in die Stadt. Mehr brauchte man gar nicht zu kennen. Es war kein Bedürfnis. Heute weiss man mehr von der Welt. Aber nicht, weil man seinen Bewegungsradius vergrössert hätte, sondern weil die Welt selbst in dieses abgelegene Tal eindringt. Durch Zeitung, Fernsehen, Internet. Man ist informiert, obwohl man gar nicht unbedingt danach sucht. Die wichtigen Ereignisse, ich meine die, welche für einen selber wichtig sind, finden hier, in nächster Umgebung statt. Ein Unwetter, Stromunterbruch, wenn an der Strasse gebaut wird und man vor den Baustellen bis zu einer halben Stunde warten muss, bevor man weiterkommt, das ist wichtig. Sicher interessiert das Weltgeschehen auch, es ist einfach nicht so relevant für meinen Alltag. Trotzdem schaue ich am Abend die Nachrichten.»
Mode und Musik, die Strömungen machen vor dem Taleingang nicht halt. Der Stil ist klar, die Richtung vorgegeben. Anders ist es mit Politik oder Ökologie. Sonnenkollektoren, das ist kein Thema. Der Strom kommt aus der Dose. So wie die Dose des eben getrunkenen Muntermachers in den Müll kommt. Um sich die hohen Kosten für die Elektroheizung und alles andere leisten zu können, arbeitet man eben hundert Prozent. Da das Postauto dem eigenen Fahrplan zuwiderläuft, wird der Gebrauch des öffentlichen Verkehrsmittels ebenfalls nicht in Betracht gezogen. Fussball, Motoren und die Ausgangslage am Wochenende sind von Interesse. Krafttraining und Surfen bringen Abwechslung in die langen Fernsehabende. Da könnte mancher Frau die Welt schon eng werden. Für die Frage nach Aufgabenteilung innerhalb der Familie und Frauenbild ist hier nicht der Ort. Obwohl es da sicher einiges zu erörtern gäbe. Umso mehr erstaunt dann wieder der Eifer, mit dem über Entwicklung und Fortschritt im eigenen Tal geforscht wird.
«Wenn man bedenkt, wie in alten Zeiten die Nachrichten überbracht wurden, ist der Fortschritt in diesem Bereich immens. Das Tal musste darum kämpfen, mit Briefpost versorgt zu werden. 1848 wurde diese per Läufer überbracht, etwas später dann zu Pferd. Ich habe gelesen, dass man gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts vorerst telegrafieren konnte, Stationen waren die Post von Loco, Russo und Comologno. Ein Bote trug dann die Botschaft weiter. Telefon gab es erst etwa fünfzig Jahre später. Und dies noch lange nicht in jedem Haushalt. Wenn man bedenkt, dass die Familien ihre Verwandten, die Väter oder die Kinder auf der ganzen Welt herum verstreut hatten und kaum mit ihnen in Kontakt treten konnten. Und heute sind wir vernetzt und können mit Leuten von weit weg reden oder ihnen schreiben. Ich weiss nicht, was besser ist. Man lebt halt mit dem, was man kennt.
Hier kann man mit bescheidenen Mitteln leben, vorausgesetzt, man stellt keine hohen Ansprüche. Das ist der Kern des Lebens hier, die Bescheidenheit. Manche, wenn sie von hier reden, sprechen die grosse Armut an, die zu jeder Zeit herrschte. Im Vergleich zu anderen Gebieten mag das richtig sein. Der Tisch war weniger reich
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