Steile Welt (German Edition)
auch verständlich, warum der Grundbesitz eben nicht verkauft wurde, auch dann nicht, wenn Leute auswanderten. Grund und Boden waren die einzige Sicherheit, die zurückgelassen wurde, das Gut, auf das notfalls zurückgegriffen werden konnte.»
Die vielfache Mutter, heute über neunzig, erzählt ohne Scham aus ihrer Zeit der Besitzlosigkeit. Aber von Stolz ist ebenfalls nichts erkennbar. Eine schlichte Zusammenstellung von Tatsachen, deren Ursache oder Hintergründe nie hinterfragt worden waren. Es hätte ja nicht weitergebracht. Der Weg ist steil vorgezeichnet. Die Navigation lässt keinen Spielraum zu. Ausweichmöglichkeiten sind nicht vorgesehen. Dass man nicht verzweifelt ist! Doch kein Zweifel nagt an der Richtigkeit der vergangenen Zielvorgaben. Der Sinn nach Gerechtigkeit richtet sich auf den eigenen Kreis, die Welt um einen herum wird nicht zum Vergleich herangezogen. Weiter als über den Talrand hinaus schaut man nicht. Es gibt genug zu schauen im eigenen Haus. Dieses steht, nun leer und eingeklemmt zwischen bewohnten und damit aufgewerteten Bauten, als einziges ungenutzt im Dorf. Es hat den Weg aus der Armut nie gefunden.
Das neue Zuhause bietet nicht viel an Platz. Das ist auch nicht nötig. Dafür alle möglichen Annehmlichkeiten, die den Haushalt erleichtern. Die Waschmaschine steht in der Wohnküche, so kann die Wäsche durch die Terrassentür getragen und zum Trocknen an der Sonne aufgehängt werden. Auch das Schlafzimmer ist auf gleicher Ebene. Ohne Treppen geht das Leben leichter. Am Mittag wird das Essen geliefert. Vom Centro. Alles andere erledigt sie, die alte Frau, selbst. Die Kinder sind ja auch noch da. Wenn etwas wäre. Und wäre da nicht dieses böse Knie, dann würde es in diesem Alter noch ein wenig besser laufen.
«Grössere Häuser gehören heute unter Umständen verschiedenen Besitzern, aufgeteilt nach Stockwerken. Das umliegende Land wurde zerstückelt und weitergegeben. Weil nach dem Tod der Auswanderer, wenn kein Testament geschrieben worden war, das Erbe an die Kinder aufgeteilt wurde, was eine Generation später wieder geschah, und so weiter. Heute haben solche Häuser dann mehrere Parteien als Besitzer, die sich gar nicht wirklich kennen. Die in der ganzen Schweiz verstreut leben oder sogar im Ausland. Dabei sind sie von ihren Wurzeln her eigentlich verwandt untereinander, nur wissen sie es vielleicht nicht. Das kann man auch bei den Nachnamen sehen. Immer tauchen die gleichen paar auf. Und weil viele gleich hiessen und die Familien gross waren, gab man den Kindern schöne Namen, suchte einen aus, den noch keiner trug. Nicht so wie in der Deutschschweiz, wo die Buben entweder Hans, Fritz oder Ernst getauft wurden. Um die zahlreichen Familien mit dem gleichen Geschlecht noch besser zu unterscheiden und voneinander abzugrenzen, gab man ihnen weitere Übernamen. Die einen waren beispielsweise i faígn, die Steinmarder, andere i vott. So bekam jede Sippe ihre eigene Bezeichnung, und es war immer klar, von wem die Rede war.
Die Kinder mussten helfen, wenn sie keine Schule hatten. Wir pflückten Brombeeren und Heidelbeeren am gegenüberliegenden Hang. Dabei waren die geschickt, die Kinder, mit ihren kleinen Händen. Und wurden nebenbei auch noch satt. Über diese Arbeit klagten sie nie. Da kamen sie gerne mit. Beklagt haben sie sich nur immer darüber, dass ich so schnell ging. Immer mussten sie mir hinterherrennen. Im Herbst gingen wir Kastanien aufsammeln. Die wurden, wenn man ihnen die Schale geschlitzt hatte, in heissem Wasser gekocht, bis sie so weich waren, dass man sie mit dem Löffel aus ihrer Hülle schaben konnte. Fleisch gab es selten. Bei wenigen Gelegenheiten ein Kaninchen oder ein Huhn. Das wurde aber erst geschlachtet, wenn es keine Eier mehr legte. Als die Buben grösser waren, gingen sie manchmal zum Fischen an den Fluss. Und wenn man Glück hatte, fand man Steinpilze, oben bei den Monti oder drüben am anderen Hang. Es gab ja Leute, die wussten immer ganz genau, wann die Pilze zu finden waren. Regen und Mond mussten stimmen. Aber auf das konnte man nicht auch noch achten. Anderes war wichtiger.
Die Schmuggler brachten Reis. Wenn man Verwandte hatte in der Deutschschweiz, verschickte man denen den Reis weiter. Wir aber brauchten ihn selber. Die Schmuggler kamen von den Bagni her über Spruga zu uns. Verkauften ihre Ware bis hinunter ins Tal. Von hier nahmen sie Tabak und Zigaretten mit zurück. Die Grenzwächter mit ihrem riesigen Schäferhund waren immer hinter
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