Steile Welt (German Edition)
dem eigenen Hab und Gut. Die Bedürfnisse verändern sich, vermindern sich auf das Wesentliche. Das Bewusstsein, wie kostbar Wasser ist, wenn man es ins Haus tragen muss, wurde bereits im Winter gewonnen, als die Leitungen zugefroren waren. Der Speiseplan richtet sich nach dem Angebot im Laden, nicht mehr nach dem Einkaufszettel, der gewöhnlich von Gelüsten und Vorlieben geprägt ist. Lebensmittel werden verwendet, bis zum Schluss. Es gibt keine Reste mehr. Nichts fällt mehr ab in den Müll. Was zuvor als verdorben galt, weil es das Datum auf dem Behälter so wollte, wird aufgebraucht, und das Auto bleibt stehen, wo der Weg gangbar ist. Der Weg in die Stadt führt statt ins Schuhgeschäft zur Bibliothek, und der Honig kommt direkt aus der Imkerei. Der Schrank, vormals als unschön angesehen, da es ihm an stilvollem Design mangelt, wird auf seine Zweckdienlichkeit hin geprüft und als gut befunden. Er darf bleiben. Alles Vorgänge ohne bewusste Absicht, nicht Folge eines sich verändernden Umweltbewusstseins. Die Sparsamkeit steckt an. Der Kontostand dankt es. Das alte Brot trocknet an der Sonne, wozu hätte man sonst das Rezept für die Torta di pane erfragt. Mehrere Wochen sind vergangen, bis endlich die erste Polenta auf dem eigenen Herd vor sich hin kocht. Ohne Fleisch, nur mit Käse und Butter genossen.
Es erschliesst sich eine neue Dankbarkeit und Wertschätzung für das, was man hat. Das ständige Streben nach mehr verträgt sich schlecht mit diesem Ort. Was in unserer Zeit so wichtig ist, das Haben, der ganze Besitz und seine Ausweitung, um zu zeigen, wer man ist, wendet sich zum Sein, zum Nachdenken darüber, wer man ist, woher man kommt und wohin man will. So dankt man dem Himmel oder sonst wem, dass man selber die Wahl hat zwischen so vielen möglichen Lebensweisen. Und staunt über sich selber und die eigenen Betrachtungen, die einen zur Besinnung kommen lassen, ohne dass man sich fortbegeben hätte zum Zweck, zu sich selbst zu finden. Das wird einem hier gelehrt, und man erfährt es, wenn man dem Tal eine Stimme gibt und den Stimmen lauscht, die so bereitwillig und geradeheraus aus ihrem Leben schöpfen.
«Jeder Tag, das ganze Jahr über, diente dem Zweck, über die Runden zu kommen. Was man da eigentlich geleistet hat, sieht man erst am Schluss, wenn man zurückschaut und vergleicht mit anderen, die es leichter hatten. Damals war es ganz normaler Alltag, dass man beispielsweise die Wäsche drüben am Bach in einer Felsmulde wusch, sie einseifte und mit den Füssen rieb. Wir mussten nur der Strasse entlang zur unteren Brücke gehen. Dann den kurzen, steilen Weg hinaufklettern, und schon war da eine Stelle, wie geschaffen für die Wäsche. Ein grosser Stein, in den der Bach ein Becken ausgewaschen hatte. Für die Kinder war das ja schon fast ein Spiel, zumindest in der warmen Jahreszeit. Sie gingen dort auch immer hin zum Baden. In einer so grossen Familie, wie wir eine waren, gab es viel zu waschen. Jede Woche einmal. Die nasse Wäsche trugen wir dann wieder heim und hängten sie vors Haus. Bei schlechtem Wetter in die Küche. An einem anderen Tag wurde Holz geholt, und jeder musste tragen. Es wollte es ja auch jeder warm haben. Sonst richtete sich der Tagesablauf nach dem Wetter. Dass die Dachstöcke im Herbst randvoll mit Heu wurden, war etwas ganz Wichtiges. Die Tiere brauchten im Winter ihr Fressen, sonst hatten wir plötzlich zu wenig Milch für alle. Zu essen hatten wir hauptsächlich Polenta und Kartoffeln. Zur Abwechslung auch Polenta mit Kartoffeln. Das konnten wir selber anbauen. Auch hatten wir einen Gemüsegarten und Obstbäume. Manchmal bekamen wir Fleisch geschenkt. Wild von der Jagd, Gämsenfleisch. Das musste gut gesäubert, das Muskelfleisch vom Fett getrennt werden. Das gab viel zu tun, und man musste es richtig machen. Blieb auch nur ein Stückchen Fett hängen und wurde mitgekocht, konnte man das ganze nicht mehr essen. Nicht einmal mehr, wenn man immer Hunger hatte wie wir. Gämsenfett hat einen so üblen Geschmack, dass es einem schon nur vom Geruch schlecht wird. Dankbar war man trotzdem für solche Gaben.
Ob es einer Familie besser oder schlechter ging, hing also wesentlich davon ab, wie viel Land ihr gehörte oder sie bewirtschaften durfte. Und ob sie auf den Monti und den Alpe auch etwas besass, um Tiere halten und diese weiden zu lassen. Besessen haben wir selber nie etwas. Alles war gepachtet und auch nicht zu kaufen. Der Boden war die Grundlage für die Existenz. So ist
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