Steile Welt (German Edition)
gedeckt als anderswo, man hatte weniger Möglichkeiten und musste immerzu arbeiten, und das schwer, um über die Runden zu kommen. Aber man kannte nichts anderes. Wer sich entschied zu bleiben, entschied sich für diese Lebensweise, richtete sich ein und war mehr oder weniger zufrieden. Es gehört einfach ein gutes Stück Einfachheit, oder sagen wir, Genügsamkeit dazu. Wer Ruhe sucht, Stille, Inspiration vielleicht oder Kraft tanken will, ist hier richtig. Wer hier zwei Wochen im Regen verbringt und sich dabei langweilt, hat sich den falschen Platz ausgesucht. Das kommt vor, dass das Wetter sich wenig südlich zeigt. Alles ist dann feucht und neblig. Die Wege rutschig. An Wanderungen ist dann nicht zu denken. Kino, Theater, Konzerte, alles ist mindestens eine Stunde Autofahrt entfernt. Und ohne Auto gar nicht erst zu machen. Das letzte Postauto fährt um sechs, am Wochenende um sieben Uhr unten in der Stadt ab. Das Schauspiel hier ist die Natur. Wem dies nicht genügt, ist verloren. Jetzt im Sommer und im frühen Herbst, wenn es angenehm warm und trocken ist, belebt sich das Tal mit Leuten, die in die Berge wollen. Das Naturreservat zieht die Menschen an. Es gibt ungefähr zehn Kilometer neue und gut markierte Wanderwege mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad. In diesem Gebiet wird nichts mehr vorgenommen oder in die Natur eingegriffen, und man überlässt die Natur sich selber. Dies ist ein eindrückliches Abenteuer für Stadtmenschen. Ansonsten gibt es wenige Attraktionen, wenn man vom Schauspiel, das einem die Natur jeden Tag in unterschiedlichster Form präsentiert, einmal absieht. Von Tourismus kann darum eigentlich nicht gesprochen werden. Vielleicht ist das aber auch gut so, denn so hat das Tal seine Ursprünglichkeit behalten. Es wurden keine neuen Häuser gebaut. Wer renoviert, macht das im alten Stil, was den Dörfern ihr typisches Gesicht bewahrt.
Werden die Tage aber wieder kürzer und kälter, leeren sich die Dörfer, und es bleiben nur noch die Einheimischen zurück, die mit dieser Abgeschiedenheit leben können. Wenn tiefer Schnee liegt, spürt man die Entfernung zur belebten Welt am stärksten. Für mich ist dies keine Entfernung vom Leben, ich fühle mich genau dann dem Leben am nächsten. Man muss mit sich und seiner Zeit etwas anzufangen wissen. Dann ist hier der richtige Ort.»
Und wenn es sich in dieser Form so gar nicht wirklich finden liesse, dieses nicht über die Masse gross gewordene Mannsbild, dann wäre es an der Zeit, ein solches zu erfinden. Blond dürfte er auch sein, eventuell dünner und warum nicht gross gewachsen. Vielleicht etwas weniger einzelgängerisch, wie auch immer. Solche Männer braucht das Tal. Welche mit Zukunft, die sie sich hier aufbauen wollen.
mazzafám
In einem Tal, wo es Schreibende hinzieht, heisst der Postchauffeur Dante. Ein anderer Max. Immerhin. Die Bücher liegen schwer in der Tasche, ihr Inhalt drückt auf das Gemüt. Schwermut ist das richtige Wort dafür. In italienischer Sprache klingt es zwar schöner, aber was so malerisch bunt tönt, hat nicht immer einen strahlenden Hintergrund.
Annibale, Clarita, Celestina und Argentina, Lindoro, Natale, Candida. Ambrogio, Modesto, Eufemia und Fiorenza, Onorato, Ulisse, Giustina und Sesto. Candolfi, Gamboni, Mordasini, Remonda oder Tonacini. Die Namen lesen sich wie Liedanfänge. Melodiös und fröhlich. Alle behaftet mit grossen Geschichten vom kleinen Leben. Von Leben, die geprägt sind von Entbehrung und harter Arbeit, von Existenzangst und Abschied. Kein Schicksal, das begünstigt hätte aus dem Vollen schöpfen können. Alle standen sie da mit leeren Händen, die zum Schaffen gemacht worden waren. Ruhelos, aber ohne Unruhe, erbarmungslos, aber nicht erbärmlich, kläglich, jedoch immer klaglos.
Wie sehr das Tal und seine Menschen von Armut geprägt sind, diese Erkenntnis verstärkt sich mit jeder Begegnung. Die Grossherzigkeit berührt, beschämt auch. Was einem selber Ausflugsziel, war ihnen Früh- bis Spätsommer, was einem unberührte Natur, war ihr Kampf um Kulturland. Die eigene Stille und Abgeschiedenheit ihr Abgeschnittensein von Fortschritt und Annehmlichkeiten, die im Unterland längst zu finden waren. Wer möchte da nicht lieber weggegangen sein.
Es soll einem nicht die Freude nehmen. Das Tal mit seinen Reizen hat sich einem geöffnet und sich dabei auch von seiner anderen Seite gezeigt. Die will ausgehalten sein. Unmerklich vollzieht sich ein Wandel. Auf einmal ist man achtsam im Umgang mit
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