Steile Welt (German Edition)
rennen, wenn sie etwas brauchen. Oder warten, bis ihnen irgendetwas fehlt. So arbeitet man unregelmässig und ist immer unter Druck, ob genügend Aufträge reinkommen. Ich fahre lieber jeden Morgen früh mit dem Auto los, komme am späten Nachmittag zurück. Für meinen Arbeitsweg rechne ich eine Stunde. Meistens bin ich schneller, aber man weiss nie, ob nicht etwas dazwischen kommt. Die Strasse kann ich auswendig. Da könnte ich wohl mit geschlossenen Augen runterund wieder rauffahren. Trotzdem bin ich immer noch und immer wieder vorsichtig. Unfälle enden hier meistens tödlich, vor allem, wennman zu schnell in eine Kurve rast und das Geländer durchbricht. Es gibt auch solche, die einen Schutzengel hatten und in den Bäumen hängen blieben. Aber das ist selten. Es hat ja einige Tafeln am Strassenrand, die an die Opfer von solchen Unfällen erinnern. Und die vielleicht die Fahrer mahnen wollen, aufzupassen. Lieber brauche ich etwas länger, als etwas zu riskieren. Ich will ja noch eine Weile leben. Heiraten, eine eigene Familie mit Kindern haben. Denen ein Vater sein wie ich selber nie einen hatte. Ich glaube, ich wüsste schon, wie das geht. Vielleicht weil ich weiss, was mir gefehlt hat. Eine Frau findet sich nicht so leicht. Hier stellt der Alltag andere Anforderungen. Man muss etwas mit sich selber anzufangen wissen. Muss auskommen mit dem, was die Natur einem vor die Nase setzt. Komische Insekten, die immer irgendein Schlupfloch in einer Mauerritze finden. Seltsame Geräusche in der Nacht oder die Stille. Die führt einem die Einsamkeit vor Augen, man müsste sagen: vor Ohren. Mit Freundinnen ist es einfacher. Die finden sich leicht, wenn man einiger massen aussieht.»
Ein himmelblauer Fünfsternblick aus Augen, die von langen, dunklen Wimpern umrahmt sind. Noch fehlt es diesem Gesicht an Ecken und Kanten, die Ausdruckskraft ist noch nicht ausgereift. Die Haare gut geschnitten, so als hätten sie keine Frisur. Ein Kopf mit Potenzial, was von der Körpergrösse nicht zu sagen ist. Proportionen und Muskelpakete nahezu perfekt. Aber zwanzig Zentimeter und ebenso viele Jahre zu wenig, um als Traummann zu gelten. Das behält man aber für sich. So will man ja nicht sein.
Lässig setzt er sich auf das Geländer, den Rücken dem Abgrund zugewandt, ungeachtet der Tatsache, dass unter ihm die Mauer zehn Meter tief abfällt. Der Schwindel hat sich wohl bereits in den ersten Lebensjahren verwachsen. Und gerne gibt man der Unbekannten eine kleine Mutprobe mit auf den Weg. Mit so etwas ist hierzutale sonst niemand mehr zu beeindrucken.
«Sobald es ums Zusammenziehen geht, ist Ende. Hier zu leben ist nicht attraktiv für eine Frau, die bereits alles hat und für sich selber sorgt. Das würde für sie dann bedeuten, vieles aufgeben zu müssen und sich auf etwas ganz anderes einzulassen. Ich möchte, dass meine Kinder hier aufwachsen. Der Entvölkerung etwas entgegensetzen. Das ist mein Beitrag zum Erhalt der Lebendigkeit des Tals. Man macht sich schon Gedanken über die Zukunft. Manche würden sagen, Sorgen. Aber das war schon immer so, seit hier Menschen gelebt haben. Immer stellte sich die Frage nach den Möglichkeiten, die sich einem hier bieten. Und derer gibt es halt nicht viele. Wie viele Jahre mussten die Frauen auskommen ohne die Männer, weil ein Einkommen nur weit weg zu finden war. Es gab Jahrgänge, da wurden fast alle Kinder im September geboren. Die Väter waren nur an Weihnachten bei ihren Familien zu Besuch. Das soll bei mir anders sein. Ich will meine Kinder aufwachsen sehen, und zwar hier. Das bedeutet aber, dass sie verzichten können auf Musikunterricht und Sportvereine, ausser man fährt die ganze Woche jeden Tag mit ihnen irgendwohin. Einen Fussballclub haben wir. Sogar einen Fussballplatz. Wohl die grösste ebene Fläche im ganzen Tal. Aber es will ja nicht jeder Bub Fussball spielen. Und vielleicht habe ich ja lauter Mädchen.
Viele, die weggegangen sind, um anderswo Arbeit zu finden, sind nie mehr zurückgekehrt. So wurden kleine Buben als Kaminfeger vor allem nach Holland geschickt. Das heisst, sie wurden geholt, von Männern, die in die armen Täler kamen und sich die schmächtigsten Knaben aussuchten. Von daher soll auch der Name des Spiels vom «Schwarzen Mann» kommen, habe ich gehört. Da war die Angst vor dem Kaminfeger schon berechtigt. Diesen Menschen hat er ja nicht gerade Glück gebracht. Wenn man sich das vorstellt. Das muss schon schlimm gewesen sein, seine Kinder in die Welt hinaus
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