Steile Welt (German Edition)
zu schicken und nicht zu wissen, ob sie jemals wieder zurückkommen werden. Das war in anderen Tessiner Tälern auch üblich. Auch da gab es viel Armut. Von diesem Tal aber gingen am meisten Leute weg. Viele fanden in Frankreich oder Oberitalien eine neue Heimat, ganz Verwegene verschlug es in die Vereinigten Staaten oder nach Südamerika.
In die Ferien fahre ich nicht. Wenn ich frei habe, gibt es hier genug zu tun. Das Land meiner alten oder verstorbenen Verwandten muss gepflegt werden, das Gras gemäht, vielleicht Bäume gefällt werden. Oben auf den Monti habe ich auch noch ein Haus. Dort bin ich manchmal für eine oder zwei Wochen. Dort gibt es einiges zu tun. Ich muss aufpassen, dass das Dach nicht einstürzt, die Balken sind schon ziemlich alt. Wahrscheinlich werde ich ein ganz neues Dach machen müssen. Die Steine kann ich wieder verwenden, die gehen ja nicht kaputt wie die Ziegel. Aber eine neue Tragkonstruktion wird es brauchen, damit alles wieder dicht ist und die Last des Schnees im Winter getragen werden kann. Cuvèrt sagt man zum Dach in unserem Dialekt. Ich spreche ihn noch. So bin ich schliesslich aufgewachsen. Meine Grosstante sprach immer Dialekt mit mir. Dieses Eigene, das sich abgrenzt von den anderen, das gefällt mir. Ich finde es auch interessant, immer wieder neue Zusammenhänge zwischen den Wörtern zu finden und nach ihrer Herkunft zu suchen. Viele Wörter kommen ja aus dem Französischen, warum, weiss ich selber nicht. Ein lustiges Wort ist beispielsweise capotanglè, die englische Mütze. Die Bedeutung ist aber eine ganz andere, wie nur der Mann von hier weiss. Es sind ja viele aus dem Tal nach Frankreich emigriert, und einige von ihnen sind wieder zurückgekehrt. Vielleicht haben diese dazu beigetragen, dass gewisse Begriffe einen französischen Ursprung haben.
Seit Kurzem habe ich auch noch ein drittes Haus. In dem hat seit drei Jahren niemand mehr gelebt. Darum mache ich nun dies und jenes, was nötig ist, damit es wieder bewohnbar wird. Ob ich dahin umziehe, weiss ich noch nicht. Vielleicht werde ich es vermieten. Am liebsten an Leute, die dann auch das ganze Jahr hier leben wollen, nicht nur an Feriengäste. Das ist zwar besser, als wenn das Haus leer steht, aber für mich macht es schon einen Unterschied im Hinblick auf die Lebendigkeit dieses Orts, ob jemand immer da ist und am Geschehen teilhat, oder ob nur die warmen Monate hier verbracht werden. Aber diese Frage, die muss ich zum Glück nicht jetzt klären. Vielleicht werde ich plötzlich darauf angesprochen und es zeigt sich eine Lösung, ohne dass man lange daran herumstudieren muss. So geht es mir häufig. Ich bin mir nicht sicher, wie es weitergeht, und auf einmal öffnet sich ein Weg und man weiss, dass es der richtige ist. Oft muss man einfach genug geduldig sein. Das sind die wenigsten. Verrennen sich lieber, als abzuwarten. Und merken zu spät, dass sie einen Fehler gemacht haben. Aber vielleicht war es für die ja gar kein Fehler, sondern nur ein Umweg.
Ich gehe auf die Jagd. Mit meinem Hund. Den habe ich nicht hier bei mir, der ist im Zwinger im vorderen Dorf bei einer Tante. Da ich tagsüber weg bin, kann ich unter der Woche nicht selber zu ihm schauen. Als Jäger muss man eine Prüfung machen. Das ist gar nicht so einfach. Fast noch schwieriger als die Fahrprüfung. Dann muss man sich an bestimmte Regelungen halten. Diese ändern zwar immer wieder, manchmal sogar von Jahr zu Jahr, zum Beispiel wie viele man von welchem Tier schiessen darf, da muss man sich einfach informieren. Die geschossenen Tiere bringt man zur Kontrolle. Dort werden sie ausgemessen und gewogen. Es wird genau aufgeschrieben, wer wo welches Tier geschossen hat. Das nehmen sie genau, die von der Behörde. Ansonsten ist man frei. Draussen in der Natur, auf sich allein gestellt. Das ist meine Erholung vom Alltag. Wenn es geht, nehme ich mir frei, ein, zwei Wochen im September. Dann beginnt nämlich das Fieber. Hochwild. Eigentlich schon in der letzten Augustwoche fängt das an, wenn man alle Sachen parat macht und die Waffen putzt. Das ist das Abenteuer für uns Männer hier im Tal. Es gibt kaum einen, den das kalt lässt. Die Frauen sind dann alle einer Meinung, dass wir nämlich alle ein bisschen verrückt seien. Sei’s drum. Ich gehe dann auf den Berg, meistens allein, manchmal mit Kollegen. Manche haben ja Mühe mit dem Töten der Tiere. Die kommen einfach mit auf die Pirsch. Mir macht das nichts aus. Ich sehe halt die Notwendigkeit darin. Drei
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