Steile Welt (German Edition)
wohnte noch die alte Zia. Ob sie mit uns verwandt war, kann ich gar nicht sagen. Viele alleinstehende alte Frauen wurden der Einfachheit halber Zia genannt. Irgendjemandes Zia wird sie schon gewesen sein. Sie war böse wie die Pest. Das wurde auf jeden Fall gesagt. Weil man es nicht besser wusste, ging man dem nicht weiter nach. Die Kinder fürchteten sich vor ihr und machten einen Bogen um ihr Haus. Sie hasste die Kinder. Es gab solche, die kletterten auf ihr Hausdach und warfen Steine in den Kamin, um sie zu ärgern. Für sie waren alle Kinder gleich. Sie murmelte immer unverständliches Zeug vor sich hin, und alle waren überzeugt, dass es sich dabei um Verwünschungen und böse Flüche handelte. Man sah sie kaum draussen, sie sass den ganzen Tag über im Dunkeln in ihrer Küche, liess ihre Ziege raus und wieder rein, das war alles. Wovon sie lebte, weiss ich nicht. Aber irgendeiner aus ihrer Familie wird sie schon versorgt haben. Als wir die Ziege drei Tage hintereinander nicht draussen sahen, nahm ich meinen Mut zusammen und klopfte an ihre Tür. Ging hinein, als ich keine Antwort bekam. Da lag sie, auf ihrem Lager, und schlief. Sie war für immer eingeschlafen. So war das mit dem Sterben. Die Kinder machten auch danach immer noch einen weiten Bogen um das Haus, und die Grossen erzählten den Kleinen vor dem Einschlafen, die Alte sässe immer noch am Feuer und würde Zaubersprüche murmeln. Und wer sich durch die Türe wagte, würde verzaubert und in einen Ziegenbock verwandelt. Wahrscheinlich meinten sie den Teufel, den sie sich wohl wie einen Ziegenbock vorstellten, mit Hufen, Hörnern, Bocksbart und Schwanz. Für die Kinder war es eine Tatsache, dass die guten Menschen, wenn sie gestorben waren, als Engel in den Himmel kamen und die bösen irgendwo herumspukten. Es war schon so, dass man in gewissen Häusern das Gefühl nicht loswurde, als herrschte noch ein böser Geist darin. Aber eben, was wissen wir schon vom Sterben. Sicher sind wir erst, wenn es dann soweit ist und wir selber an der Reihe sind. Ich würde gern so sterben wie zu alten Zeiten.»
Die blau geäderten Hände spielen mit dem Tischset. Vor der offenen Terrassentür summen die Bienen über den Blumentöpfen. Trotzdem sitzt man drinnen. Weil man sich früher immer nach dem Wetter richten musste, wird es jetzt vernachlässigt. Vielleicht. Es liegt Müdigkeit im Raum, die Luft scheint gesättigt. Das Leben ist ausgeschöpft, es gibt nichts mehr zu wollen. Einzig die Furcht davor, betagt zu werden, weckt jeden Tag die Energie von neuem. Nur nicht liegen bleiben am Morgen. Wer nicht mehr aufstehen kann, braucht Hilfe. Dann lieber sterben. Das erspart einem die Abhängigkeit. Das hatte man sein Lebtag lang zu vermeiden versucht. Warum also jetzt noch damit beginnen. Nie würde man sich mehr ausgeliefert gefühlt haben als von diesem Moment an.
«Wenn die Alten ihres Lebens müde wurden, legten sie sich hin zur ewigen Ruhe. An lange Krankheiten kann ich mich nicht erinnern. Solange man sich auf den Beinen halten konnte und arbeiten, galt man als gesund. Wer sich ins Bett legen musste, war ernsthaft krank. Dann holte man den Doktor oder den Pfarrer, je nachdem.
Die Männer starben meistens früher. Es gab weniger alte Männer in den Dörfern als alte Frauen. Aber Männer gab es ja grundsätzlich weniger hier im Tal, darum fiel uns das gar nicht so auf.
Man kann schon sagen, dass das Tal in Frauenhand lag. Wir waren es, die uns darum kümmerten, dass das Leben hier weiterging. Die Kinder, das Haus, die Tiere, der ganze Umschwung, das Anbauen und die Beschaffung der Lebensmittel, all dies war unsere Sorge. Wir waren diejenigen, welche die Stellung hielten, andernfalls wäre das Tal wohl ausgestorben, wäre alles auseinandergefallen. Wir hielten die Dinge beisammen und schauten zum Besitz, dem Einzigen, was uns geblieben war. Die Männer waren immer auf der Suche. Nach Arbeit, Geld und anderen, besseren Zuständen. Darum waren sie immer abwesend. Kaum einer, der sich um seinen Hof kümmerte. Dafür waren wir da. Wir und die Kinder, die Grossmütter und ledigen Tanten und Schwestern, sofern man denn welche hatte. Grosse Familien waren immer ein Vorteil. Darum war jedes Kind, das geboren wurde und gesund blieb, ein Glück. Auch wenn es ein Mädchen war. Erst später hatte man damit angefangen, auch die Mädchen in die Fremde zu schicken zum Arbeiten. Damit sie es einmal besser hatten als man selber. Deshalb sind dann die Höfe, die Monti und die Alpe
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