Steile Welt (German Edition)
mehr und mehr verkommen. Weil es jetzt gar niemanden mehr gab, der sich darum kümmerte. Wir Mütter waren ja irgendwann einmal auch zu alt dazu oder suchten uns eine andere Tätigkeit, die etwas Geld einbrachte, sobald die Kinder gross geworden waren und man sich nicht mehr darum kümmern musste, dass sie satt wurden.
Ich selber half später in anderen Familien aus, als die Kinder aus dem Haus waren und es im Haus nicht mehr so viel zu tun gab. Da wollte ich auch keine Ziegen mehr haben und auch lieber etwas Geld verdienen. Fünf Franken gab es dafür am Tag. Das war es mir wert. Denn für die gleiche Arbeit auf den eigenen Feldern bekam ich nichts. Ich half beim Heuen, Holzen oder beim Mistverteilen auf die Felder. Alles mit der Hutte. Ich weiss nicht, wie viele Kilos ich in meinem Leben auf dem Rücken getragen habe. Manches Mal auch Steine.
Als mein Mann starb, bekam ich eine Rente und hatte das erste Mal mehr Geld zur Verfügung als für das Nötigste. Ich konnte es mir plötzlich leisten, mit dem Postauto in die Stadt zu fahren. Ich erinnere mich noch gut, wie ich zum ersten Mal in einem Laden ein Kleid anprobierte. Einmal im Monat fuhr ich nach Locarno. Machte Ausflüge mit dem Schiff oder mit der Seilbahn. Einmal fuhr ich bis nach Zürich. Da gefiel es mir gar nicht. Die vielen Autos und die Leute, das war nicht meine Welt. Weiter bin ich nicht gereist. Das ist jetzt auch vorbei.
Mein ganzes Leben habe ich in diesem Tal verbracht. Zweiundfünfzig Jahre davon im selben Haus. Die Familie, die Kinder, der Kampf gegen den Hunger, das war meine Aufgabe. Es hat immer gereicht für alle, das war das Wichtigste. Man hatte sich geholfen, und das gab einen Zusammenhalt, der bis heute Bestand hat. Manchmal hätte ich gerne etwas mehr von allem gehabt und dafür weniger Sorgen. Aber weggehen, das wollte ich nie, das hätte ich mir nicht vorstellen können. Auch später nicht, als ich die Möglichkeiten dazu hatte. Meine Wurzeln sind hier, und die sind stark. Ich kann die Leute nicht verstehen, die dauernd unterwegs sind, in Flugzeugen oder mit ihren Autos. Aber vielleicht haben sie einfach zu viel Zeit, die sie vertreiben müssen.
Wenigstens solche Sorgen hatten wir nicht, früher. Freizeit, diesen Begriff gab es schon gar nicht erst. Feierabend, das kannten wir. Aber auch bloss als Wort. Denn am Abend hatten wir nichts zu feiern. Wir arbeiteten, bis wir schlafen gingen. Jede Beschäftigung, sei es stricken, nähen, Gartenarbeit, alles geschah zu einem bestimmten, unmittelbar nützlichen Zweck. War nicht als Hobby gedacht, wie das heute heisst. Alles hatte einen Sinn. Darum mussten wir wohl auch nie über den Sinn des Lebens nachdenken, ihn sogar suchen. Er bestand ganz einfach darin, seine Lebensaufgabe zu erfüllen. Was nichts anderes bedeutete, als seine Familie zu ernähren und sein Leben weiterzugeben an die nächste Generation. Diese Aufgabe habe ich erfüllt. Besser machen ging nicht. Man hat alles gemacht, alles gegeben. Und das gibt einem heute eine gewisse Ruhe und Zufriedenheit. Genugtuung ist ein schönes Wort. Man hat genug getan.»
Womit alles gesagt ist. Gesagt und getan.
paufiir
Dass die Eidechsen geschickte Kletterer sind und sich gerne an der Sonne wärmen, dass sie ihren Schwanz fallen lassen können und eher menschenscheu sind, das hat man gewusst. Dass sie ganz unterschiedliche Färbungen aufweisen, sich auch mal zu zweit wie wild balgen und sich kugeln, dass sie stehen bleiben, man ihren Herzschlag sieht und sie einen ansehen, um die Gefahr einzuschätzen, dass die Kleinsten noch nicht so geschickt und schnell sind, das hat man beobachtet. Dass die Männchen sich um ihre Weiblein zanken, dass sie zwei bis zehn Eier in der Erde oder in Mauerspalten ablegen, die dann je nach Temperatur in einer Zeit von mehr oder weniger sechs Wochen im Sommer ausgebrütet werden, das hat man in Erfahrung gebracht. Was ihren Speiseplan betrifft, gilt es noch etwas nachzuforschen.
Der Sommer ist eingetroffen. Etwas spät, dafür aber umso heftiger. Die Tätigkeiten in der Mittagszeit werden eingestellt, die Fensterläden bleiben auch am Tag geschlossen. Die dicken Mauern halten das Haus angenehm kühl. Die Terrasse bietet sich erst am Abend an, wenn die Wespen sich zur Ruhe begeben. Sternenklarer Himmel mit Mondsichel, auch einmal eine Sternschnuppe. Wünsche hat man immer genug.
Das Rabenpaar hat sich getrennt. Sie fliegen nicht mehr zusammen. Kommunizieren krächzend auf Distanz aus den Baumkronen. Er
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