Steile Welt (German Edition)
zweimal, sie dreimal – oder umgekehrt. Keiner bleibt dem anderen eine Antwort schuldig. Der Zwist zieht sich in die Länge, in verschiedenen Tonlagen wird diskutiert, alles in allem recht ungeduldig. Vermutlich reden sie aneinander vorbei. Dann eilige Flügelschläge. Einigung oder Abkehr? Man weiss es nicht. Der Disput verstummt.
In der Deutschschweiz haben Schule und Arbeitsleben wieder begonnen. Der Verkehr wird weniger. Während sich in den grösseren Ortschaften die Strassenränder leeren, treffen hier Neuankömmlinge ein. Zwei weitere Teilzeitbewohner mit eigenem Haus. Der kleine Parkplatz füllt sich, stellenweise zwei Autos hintereinander, was nichts macht, da sich alle kennen und man weiss, wem die betreffenden Fahrzeuge gehören. Nur die Parkplätze am Rand, die sind sakrosankt. Die gehören den Heimischen. Aber auch das weiss man.
Am Abend wird vor dem Haus auf Deutsch, Französisch und Italienisch geradebrecht, bis man eine gemeinsame Sprache findet, was mit jedem Glas Wein ein bisschen besser gelingt. Alle haben mindestens eine Geschichte in jeder Hosentasche. Erfahrungsberichte mit Handwerkern, Charakterstudien von Einheimischen oder Reisereportagen. Die Sprachen ebenso unterschiedlich wie Alter und Wesenszüge. Was verbindet, ist die Verbundenheit mit dem Tal und seinen Menschen. Und das zweite Heim an einem abgelegenen Ort, dessen Lage den meisten Bekannten zu Hause unbekannt bleiben wird. So verstreicht am Gartentisch die halbe Nacht. Wird am Morgen vom Dröhnen geweckt, das nicht dem eigenen Schädel entspringt, glücklicherweise, sondern der Motorsense aus der Nachbarschaft. Es ist Zeit zum Heuen. Die Tage versprechen, schön zu bleiben, zumindest, was das Wetter betrifft. Wie man sich selber in ihnen einrichtet, bleibt jedem allein überlassen. Die Gewohnheiten, die sich, ganz dem hiesigen Alltag angepasst, in den letzten Wochen eingeschlichen haben, werden lieb gewonnen. Die Uhr kann man nach dem Kater stellen, die Mahlzeiten nach dem Hunger oder nach der Fülle oder Leere des Küchenschranks. Es wird Zeit, diesen zu aktualisieren.
Der morgendliche Einkauf ist schnell erledigt. Der Weg ins hinterste Dorf schnell gemacht. Eigentlich wollte man sich ein bisschen Bewegung verschaffen, doch in der bereits zu dieser Stunde schier erdrückenden Hitze ist der Stopp der sich nähernden Autos willkommen.
Hinauf mit dem Nachbarn, zurück mit dem Bauführer. Der ist täglich unterwegs zwischen hier und dem Nebental. Zwischen Baustellen und Kuhweiden, zwischen Morgendämmerung und Abendstunde. Und immer zu einem Schwatz aufgelegt, am liebsten bei einem guten Glas. Aber das erlaubt man sich erst, wenn alles erledigt ist. Und alles, das ist viel.
«Um als Bauer in der heutigen Zeit existieren zu können, fehlt die Familienstruktur, wie sie früher war. Da gab es drei oder mehr Frauen in einem Haushalt. Die Grossmutter, eine unverheiratete Tante oder Schwester vielleicht, Cousinen und natürlich die Ehefrau. Die Arbeit der Frauen war in diesem Tal immer sehr wesentlich und hat dazu beigetragen, dass eine Sippschaft bestehen konnte. Die Kinder mussten natürlich mit anpacken, und von ihnen wurde erwartet, dass sie für gewisse Arbeiten alleine verantwortlich waren. So hat das funktioniert.
Hier kann man kaum mit Maschinen arbeiten, fast alles wird von Hand und zu Fuss erledigt. Natürlich hat man Motorsensen und Motorsägen, den Helikopter und Transportseilbahnen. Aber auf die Monti und zu den Alpe führen keine Strassen. Man braucht schon viel Zeit allein für die Wege. Wenn man allein ist, schafft man das fast nicht. Leute anstellen kann man sich aber auch nicht leisten, da ein Bauernbetrieb fast keinen Ertrag abwirft.
Ich bin fast der einzige hier im Tal, der noch Kühe hat. Aber davon kann ich nicht leben, das ist nur noch ein Nebenverdienst. Obwohl ich, wenn ich gefragt werde, sage, ich sei Bauer. Das Melken und die Herstellung von Käse sind zu aufwendig geworden. Zudem sind die Anforderungen an diese Produkte so sehr gestiegen, dass diese Vorgaben kaum mehr zu erfüllen sind. Also stellt man um auf Mutterkuhhaltung. Die Herde ist im Winter im Tal, im Frühling auf den Monti und den Sommer über auf der Alp. Dann zurück auf die Monti und wieder herunter ins Tal. Trasloco nennen wir das. Früher ist die Familie natürlich mitgegangen. Oder zumindest ein Teil davon. Hat die verschiedenen Hütten bewohnt und das Land in der dortigen Umgebung bewirtschaftet. Heute sind die Tiere sich allein
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