Steile Welt (German Edition)
einer unter vielen hier am Ort. Sie sind die einzigen Lebenden, die sich dauerhaft hier aufhalten. Während man die Fresken betrach tet, behält das Grautier einen im Auge, kommt ein paar Schritte hinterher, wenn die nächste Kapelle angesteuert wird. Wer von beiden von diesem Gang mehr versteht, bleibt offen. Der Friedhof, ein lieblicher Flecken geweihter Erde mit traumhafter Aussicht. Wenn sie denn noch zu geniessen wäre hier im Liegen. Der Kirchenvorplatz gleicht einer Bühne, deren Kulisse, die ins Schein werferlicht der Sonne gestellten Berghänge, keinerlei Schauspieler bedarf. Daneben das Beinhaus. Der alte Leichenwagen, auf dem die Toten der umliegenden Dörfer seinerzeit mit Manneskraft hierher gezogen und geschoben wurden, ist einziger Zeuge dieser vergangenen Zeit. Das Schild an der schweren Kirchentüre, diese doch bitte immer zu schliessen, sei es wegen der Esel oder sonstigen ungebetenen Gästen, ist seines Sinns enthoben. Der Riegel ist vorgeschoben und der Schlüssel gedreht. Man steht am Eingang auf dem in die Bodenplatte gehauenen Totenkopf. Er wird uns alle überdauern, dieser Tod in Stein. So wie all die anderen, die mit ihrer Sichel daherkommen. Heute vielleicht mit der Motorsense.
Zurück im eigenen Haus ziert sich eine Madonna unter der Treppe, die zweite auf dem Mauersims. Dass ihre Dienste mehr sind als reiner Dekorationszweck, spürt man an der guten Stimmung im Haus. Später am Abend, als man unter Nachbarn auf der Terrasse sitzt, zählt die Muttergottes von oben herab nicht die gebeteten Ave Marias, sondern die Gläser Rotwein, die konsumiert werden.
Und plötzlich erinnert sich der pensionierte Lehrer aus Genf eines alten Schulhefts, in das seine Mutter ihre Kindheitserinnerungen übertragen hat. Nach seiner Heimkehr wird einem dies umgehend zugestellt. Warum jetzt nicht auch noch eine Geschichte in Französisch. Sogleich versenkt man sich in die Übersetzung: Erinnerungen einer Kindheit im Onsernonetal, geschrieben im Jahr 2004. Das Nachschlagen im Wörterbuch wird weniger beschwerlich sein, als es die Jahre eines Waisenkinds hier in diesem Dorf waren.
«Dieses Dorf ist mein Geburtsort, den ich 1932 im Alter von zwölf Jahren verlassen habe. Hier bin ich geboren, im zweiten Zimmer des grossen Hauses. Oben, im zweiten Stock.»
Das grosse Haus, es ist das mächtigste im ganzen Dorf. Allen anderen Häusern und Häuschen weit überlegen, thront es auf seiner hohen Mauer, die nach dem grossen Unwetter auf unschöne Art wieder aufgerichtet wurde. Oben am Hang steht es, senkrecht und mittig zweigeteilt, die Besitzverhältnisse klar geregelt und gekennzeichnet durch die unterschiedliche Farbgebung der Fensterläden. Die massigen Steinmauern verputzt und die Vorderseite, zur Strasse hin, weiss gekalkt. Es zeigt sich von seiner besten Seite. Vier Stockwerke sind zu zählen, den beiden obersten vorgeschoben der typische Holzbalkon zur Sonnenseite hin. Von der höchsten Lobia aus lässt sich das ganze Tal überblicken. Innen, mittig, ein grosszügiges Treppenhaus, links und rechts gehen Türen ab in die Räume und Kammern. Die sind allesamt grosszügig in ihrer Fläche, knapp bemessen aber, was die Raumhöhe angeht. Die Menschen sind gewachsen im Verlauf der Generationen.
«Es gab in unserer Familie bereits einen Bruder, der in meinem Leben von Anfang an und weiterhin immer viel Platz beanspruchte. Von meiner frühen Kindheit weiss ich nicht mehr viel. Papa arbeitete in Genf, so hat man uns gesagt. Das ganze Jahr über. Einen Monat im Jahr verbrachte er bei uns. Das war immer um Weihnachten herum. Er brachte Geschenke mit und Schmuck für den Weihnachtsbaum. Das waren kleine Schokoladefiguren, in goldenes Papier gewickelt. Das war schön. Wir waren glücklich und erfreut, ihn hier zu haben. Die ersten Tage waren wir immer ein wenig schüchtern, der Vater war uns ein bisschen fremd. Aber mit der Zeit gab sich das, und wir kamen uns in diesem Monat wieder näher. Dann war es das reine Glück in der Familie. Ich erinnere mich an die Morgen, wenn er sich rasierte. Staunend standen wir Kinder hinter ihm. Für uns war das ein ungewohntes Schauspiel. Er hängte einen Spiegel an einen Nagel über dem Fenster. Meinem Bruder und mir schien er so gross zu sein, wie er da stand. Von Zeit zu Zeit drehte er sich um und stupste uns mit dem Rasierpinsel ins Gesicht, sodass wir auf Wangen und Nase weisse Tupfen von Rasiercreme hatten.
Der Heiligabend, das war wundervoll. Wir stellten einen leeren Teller vor
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