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Steile Welt (German Edition)

Steile Welt (German Edition)

Titel: Steile Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stef Stauffer
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Mut und Zuneigung zu uns. Sie arbeitete viel und hatte Ziegen, aber Geld verdiente sie nicht. Mit unserem Einzug hatte sie dann noch einmal mehr Arbeit. Und eine grosse Verantwortung. Aber vielleicht war es gerade das, was sie dazu bewog, uns zu sich zu nehmen. So bekam ihr Leben einen Sinn. Erst später verdiente sie zwei Franken am Tag, als sie anfing, in der Nacht die Ränder der maschinell gefertigten Spitzen für eine Fabrik in St. Gallen zu versäubern. Ganze Säcke schickte man ihr, und sie sass bei der Arbeit bis morgens um vier. Das Geld war nötig. Alle zwei Wochen schickte Papa zwanzig Franken, seine schmutzige Wäsche und Süssigkeiten.
    Im Oktober gingen wir wieder zur Schule, und solange ich hier zur Schule ging, trug ich Schwarz. In der Schule waren wir die Waisen, und wir waren die einzigen. Zwei Kilometer Schulweg hatten wir, wir gingen früh los, die ganze Bande aus unserem Dorf. Wir amüsierten uns. Nur mein Bruder nicht, der ging nicht gern zur Schule. Die Tante musste ihn oft ein Dorf weit begleiten, hielt ihn fest, wenn er böse wurde. Er versuchte in seiner Wut, Steine nach der Zia zu werfen, und auf dem ganzen restlichen Weg machte er sich einen Spass daraus, uns Angst zu machen, indem er über die Felsen sprang. Wenn wir gingen, nahmen wir unseren Blechkessel mit dem Mittagessen mit und einen Holzklotz, um das Schulzimmer zu heizen. Am Mittag konnten wir bei einer alten Frau sein, die genau so arm war wie wir. Sie hatte ein gelähmtes Bein und sass den ganzen Tag am Feuer. Da wärmte sie unser Mittagessen, und wir blieben, bis die Schule am Nachmittag wieder begann. So waren wir ein bisschen an der Wärme. Ziemlich unangenehm war, dass sie dauernd ins Feuer spuckte. Das fanden wir abscheulich. Aber sonst war sie so lieb zu uns, dass wir das akzeptierten. Schliesslich durften wir bei ihr sein. Andere hatten uns ihre Türen nie geöffnet. Wenn ich an das denke, so finde ich, dass die Welt sehr egoistisch war, aus meiner heutigen Sicht. Es hätte reichere Leute gegeben im Tal, die uns hätten unterstützen können. Aber für uns damals gab es nichts. Niemand wollte uns, bis auf die, die selber arm dran waren. Wir, wir waren nichts als Kinder im Elend, und wir bekamen nichts weiter als die Verachtung der anderen zu spüren.
    In der Primarschule hatten wir eine Lehrerin. Das war unsere Cousine. Sie kam aus dem Nachbardorf. Manchmal behielt sie uns am Ende des Tages noch in der Klasse. Sie hatte Butterbrote für uns parat gemacht. Das ist eine schöne Erinnerung. In der Sekundarschule hatten wir einen Lehrer, wahrhaftig eine Respektsperson. Er schüchterte uns immer ein. Nicht weil er böse gewesen wäre. Es lag eher an seiner starken Persönlichkeit. Als ich im Winter mit meinen löchrigen Holzschuhen daherkam, fragte er mich, ob ich denn nichts besseres anzuziehen hätte. Ich antwortete, ich hätte schon noch ein zweites Paar Schuhe. Das waren aber nur Sandalen für den Sommer. Das sagte ich natürlich nicht. Ich wollte einfach nicht zugeben, dass ich kein anderes Paar Schuhe besass. Schade, dass ich gerade da meinen Stolz hatte. Der Lehrer hätte mir sicher ein ausgetragenes Paar seines Sohnes gegeben. Der war nämlich immer warm angezogen. Aber so war es nun mal. Wir Armen und unser Stolz. Da wurde wieder einmal eine Gelegenheit verpasst, bei der man hätte zugreifen sollen.
    Die Religion hatte auch ihren Platz in unserer Kindheit. Wir beteten immer viel. Jeden Abend nach dem Essen den Rosenkranz. Da kam eine Nachbarsfrau immer zu uns. Wahrscheinlich eher zur Zia, um ihr Gesellschaft zu leisten. Und nach dem Gebet erzählte sie uns Geistergeschichten. Mit Angst im Bauch gingen wir dann schlafen. Abgesehen davon waren wir oft in der Kirche. Wir fanden unseren Geistlichen böse und engherzig. Denn für ihn gab es da gewisse Unterschiede zwischen seinen Schäfchen. Uns Kinder aus diesem Dorf behandelte er respektlos. Da will ich jetzt nicht weiter ins Detail gehen. Dies ist keine schöne Erinnerung. Während der Fastenwoche standen wir um fünf Uhr auf, um in die Morgenmesse zu gehen. Zu dieser Stunde war es noch kalt und dunkel. Am Sonntag gab es ebenfalls Messe und am Nachmittag Vesper. Auf den Knien mussten wir den Katechismus aufsagen. Eine Stunde am Morgen, eine am Nachmittag. Und einmal pro Woche ging es zur Beichte. Es ging ja immer um die Sünde, bei allem. Erbsünde, Todsünde. Das war die Art von religiöser Erziehung, die uns die Kindheit vergiftet hatte.»
    Die sonst schon wackelige

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