Steile Welt (German Edition)
das Fenster. Der Weihnachtsmann sollte doch vorbeikommen. Am nächsten Tag in der Frühe schauten wir sofort nach, was er uns denn gebracht hatte. Im Teller lagen eine Orange und eine Tafel Schokolade.
Die Weihnachtszeit ging vorbei, und Papa spielte jeden Abend, bevor wir ins Bett gingen, Mundharmonika und tanzte herum und spielte dabei weiter. Darüber konnten wir nur noch staunen, wie da Musik aus seinem Mund kam und die Beine dazu im Takt hüpften.
Papa bastelte im Haus herum. Es gab immer irgendwelche Pinselstriche anzubringen. Das Dach wurde kontrolliert, Mauerritzen ausgebessert. Das waren Sachen, für die die Mutter keine Zeit hatte oder keine Hand. Es gab allerlei zu tun, damit das Haus für die nächsten Monate wieder in Stand war. Wir halfen ihm dabei so gut wir konnten, hauptsächlich, um in seiner Nähe zu sein. Ende des Monats sahen wir traurig zu, wie er wieder ging. Und das Leben hier ging weiter ohne ihn.
Im Jahr 1925, mitten in der Nacht, weckte ein lautes Treiben das ganze Haus. Es muss im Herbst gewesen sein, denn am Nachmittag hatten wir Äpfel gepflückt. Die Körbe und Kisten in der Küche wurden nun beiseite geschoben. Die Geburtshelferin, die plötzlich im Haus herumlief, sperrte uns aus, auf den Balkon. Aber wir wollten doch etwas sehen, wenn wir schon nicht verstanden, was da vor sich ging. Wir sahen aber nur Eimer voll Wasser und Leintücher, die vorbeigetragen wurden, und froren dabei an die Füsse. Wir begriffen nichts und fragten uns, wie dieser Bub, den wir, kaum war er dann endlich da, zu sehen bekamen, eigentlich zu uns gekommen wäre. Ob die Hebamme ihn vielleicht mitgebracht hätte. Das ganze Zimmer, in dem Mama lag, roch nach Kölnisch Wasser. Diesen Geruch vergass ich nie mehr. Er erinnerte mich immer an die Geburt meines kleinen Bruders. Der grosse begann am Bettrand bereits Grimassen zu schneiden, um ihn zum Lachen zu bringen. Nach ein oder zwei Monaten reagierten seine kleinen Augen und verstanden diese Spiele. Seine Miene begann sich zu verziehen.
Im Juli 1928 beschloss Papa, seine Familie nach Genf zu holen. Er hatte eine Wohnung für uns gefunden, unweit entfernt von einer Tante. Wir vier reisten also zu ihm. Vorerst für zwei Wochen. Als wir diese besagte Tante dann einmal besuchten, wusste ich noch nicht, dass dies einmal mein Zuhause werden würde, in dem ich mein ganzes weiteres Leben verbringen würde. Als Achtjährige traf ich dort nämlich auf einen neunjährigen Jungen, und mein Schicksal war besiegelt. Es war die erste Begegnung mit meinem zukünftigen Mann.
Nach diesen beiden Wochen kehrten wir aber vorerst wieder in unser Dorf zurück. Es gab da noch einige Dinge zu regeln, bevor wir definitiv abreisen konnten. Und dann hielt uns ein Drama von dieser Reise ab. Alle Pläne wurden zunichte gemacht. Die Zukunft wurde eine ganz andere, als von unseren Eltern vorgesehen.
Es war im August, und Mama war schwanger mit dem vierten Kind. Sie wurde krank und legte sich ins Bett. Das hiess, dass es schlimm um sie stand, denn am Tag hatte sich die Mutter vorher nie hingelegt. Sie wollte keine Medizin, sondern die Hebamme. Nach zwei oder drei Tagen ging es ihr immer noch nicht besser, und man liess den Arzt kommen. Doch es war zu spät. Er konnte auch nichts mehr für sie tun. Ich sehe meine Mutter noch tot im Bett liegen. Mein Vater kam in der Nacht, doch auch er war zu spät. Sie war bereits am Abend gestorben. Armer Papa.
Und plötzlich drehte sich alles nur noch um uns, ich erinnere mich nicht mehr so genau an diese Stunden. Es war ein Durcheinander. Die Welt war in Unordnung geraten. Wir waren alle so bestürzt. Das halbe Tal sprach von uns, und ich hörte die Leute sagen, dass das Bébé tot wäre. Ich verstand gar nichts. Erst viel später begriff ich, worum es gegangen war. Dass meine Mutter die Geburt ihres Kindleins nicht überlebt hatte. Ich weiss nicht, ob dieses mein Geschwisterchen überhaupt auf die Welt gekommen war oder nicht. Am Tag der Beerdigung wurde uns auf jeden Fall nicht erlaubt, mit den Erwachsenen auf den Friedhof zu gehen. So blieben wir bei einer Nachbarin.
Einige Tage später ging Papa wieder zurück nach Genf. Wir Kinder verliessen das grosse Haus und zogen zu der Zia. Sie war die Schwester meiner Mutter. Unverheiratet und bis dahin alleinlebend, bescheiden und in Armut. Unser Leben veränderte sich völlig. Man kann sagen, die Entscheidung der Zia, uns drei kleine Kinder bei sich in ihrem schäbigen Haus aufzunehmen, zeugte von grossem
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