Steile Welt (German Edition)
und schwer entzifferbare Schrift der alten Frau wird an dieser Stelle schier unleserlich. Hüpft von den Linien, die Korrekturen machen einander den Platz abspenstig. Der Druck auf die Seiten wird stärker. Gute siebzig Jahre später vermag diese Erinnerung die Schreiberin noch so sehr in gefühlsmässigen Aufruhr zu versetzen, dass es fast nicht gelingt, sie auf dem Papier festzuhalten. Es sind die unruhigsten Zeilen auf diesen Seiten. Die verworrenen Gedankengänge sind nur schwer nachvollziehbar. Der Abschnitt der Kindheit, der das Mädchen wohl sehr durcheinander gebracht und verwirrt hatte. Es liess sich mit einer Schuld beladen, welche von Kinderschultern nicht getragen werden konnte. Das bleibt hängen, lässt sich wohl nie mehr abschütteln.
«Dass man sich einmal in der Woche als Sünder hinstellen musste, ob man nun einer gewesen war oder nicht, das musste so sein. Im Rückblick denke ich, das war nicht ganz die richtige Art, uns den rechten Weg zu weisen. Das gab uns eine ganz falsche Sicht der Sünde. Was mussten wir gesündigt haben, dass wir von Gott so bestraft worden waren. Wir konnten das nicht verstehen. Wie hätten wir das von Gnade und Ungnade begreifen können. Wir kleinen Kinder machten da Überlegungen in eine falsche Richtung.
Aber die Gebete, die sind mir wichtig geblieben. Ich betete weiterhin und bete immer noch.
Unser Zeitvertreib hier ist schnell erzählt. Spiele und Spielzeuge hatten wir nicht. Also waren wir draussen auf dem Platz und spielten Blinde Kuh oder Fangen. Der Sommer, das war die Zeit der nackten Füsse. Wir gingen über die Hänge und riskierten Unfälle, indem wir über die Felsen kletterten oder zum Fluss hinabstiegen. Aber die Heilige Maria hielt ihre schützende Hand über uns. Es gab auch viel Arbeit zu erledigen. Ich ging mit der Zia heuen, sie schnitt das Gras, ich hantierte mit der Heugabel und verteilte es. Dann musste es gewendet, schliesslich zusammengerecht und eingebracht werden. Das war das Los von uns Kindern. Der ältere Bruder, unser Sturkopf, der half natürlich nur, wenn er Lust dazu hatte. Das war nicht gerade oft. Ihn zu zwingen half aber nichts. Dann machte er nur mit Absicht alles verkehrt, und wir hatten noch mehr damit zu tun, es wieder in Ordnung zu bringen. Also liessen wir ihn und er uns in Frieden. Die Arbeit war für uns anderen Kinder etwas ganz Normales.
Die Ziegen, die waren auf der anderen Seite des Tals. Wir mussten hinabsteigen und sie suchen gehen, meistens weit weg, oben am Berg an der italienischen Grenze. Welche Mühe machte man sich für dieses bisschen Milch. Ich folgte der Zia auf Schritt und Tritt. Hatte immer Angst, es könnte ihr etwas passieren in den Bergen, wo es einige gefährliche Passagen gab. So, wie sie Verantwortung für uns übernommen hatte, begann ich mit dem Älterwerden ebenfalls, Verantwortung zu übernehmen. Und ich wollte nicht noch einmal jemanden verlieren.
Im Juli stiegen wir jeweils für eine Woche auf den Berg, um zu heuen. Für uns waren das die Ferien. Es war uns, als würde ausser uns und dem kleinen Haus, das so einsam auf seinen Wiesen lag, nichts anderes mehr existieren. Wir liebten diese Hütte und waren glücklich. Wenn wir noch etwas höher hinaufstiegen, hatten wir einen Blick über das ganze Tal. Ich rieche diese gute, frische Luft noch heute. Da oben hatte der älteste Bruder seine Vision. Die Heilige Jungfrau! Das sagte er auf jeden Fall. Mehr aber nicht.
Dieser älteste Bruder litt unter der Abwesenheit der Mutter am meisten von uns allen, weil er von der Mutter früher immer verwöhnt und auf diese Weise verzogen worden war. Darum wurde er wohl ein schwieriges Kind. Dazu kam noch seine Schwerhörigkeit. Die Tante kam mit ihm nicht mehr zurecht. So entschied unser Vater, ihn in ein Heim nach Locarno zu geben. Er war dort inmitten von Taubstummen. Ich weiss nicht, ob er an diesem Ort besser aufgehoben war als hier bei uns. Aber so hatten wir wenigstens eine Sorge weniger. In seinen Ferien brachte er uns die Gebärdensprache bei. Das war lustig.
Im Jahr 1929 kehrte der Grossvater aus Frankreich zurück, wo er bei seinem Bruder, der war Bauunternehmer, als Angestellter gearbeitet hatte. Er war krank geworden, darum musste er damit aufhören. Er kam also hierher zurück und zog ins grosse Haus. Am Abend ass er mit uns am Tisch. Wir kamen nicht gut miteinander aus. Es war schwierig mit ihm. Der Grossvater litt an Gedächtnisverlust und Traurigkeit. Heute hätte diese Krankheit bestimmt einen
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