Steilufer
Schritte in Richtung seines jetzigen Berufs machte. Er erkämpfte sich einen Ausbildungsplatz in einem Spitzenrestaurant an der Cote d’Azur, arbeitete in den Küchen diverser nobler Hotels. Einzig zwei Tätowierungen, die seine Oberarme zierten und von den Maori in Neuseeland stammten, zeugten noch von seiner Vergangenheit. Seit ein paar Monaten hatte er eine kleine Tochter und klagte mit ironischem Bedauern, dass er jetzt wohl gänzlich auf dem Weg zum Spießer sei.
»Hey, wo bleibt eigentlich unser Zuckerbäcker?«, rief Jack. Dieselbe Frage hatte sich Anna auch schon gestellt und nervös zur Uhr geschaut. Fouhad, der seit einiger Zeit als Pâtissier fungierte und die köstlichsten Nachspeisen schuf, war stets zuverlässig und kam sonst nie zu spät zur Arbeit. Allerdings hatte er wohl seit Kurzem eine Freundin in Travemünde, wie ihr die anderen aus der Remise erzählt hatten und fuhr, so oft er konnte, mit dem Roller zu ihr hin, was eine Verspätung erklären könnte. Doch das war nicht der Moment, über Fouhads Verbleib zu rätseln. Jemand anders musste seine Aufgaben übernehmen.
»Margoszata, kümmerst du dich bitte um die Desserts, bis Fouhad hier auftaucht?«
»Mach ich! Sogar gerne«, rief die junge Polin fröhlich, die dem Team seit Anbeginn als Köchin angehörte und die mit ihrem Talent, ihrer Energie und ihrem Ehrgeiz sicherlich eines Tages ihr eigenes Restaurant haben würde.
Als Anna gegen 11 endlich dazu kam, ihren Gästen persönlich einen guten Abend zu wünschen und Komplimente und Anregungen entgegenzunehmen, war das Restaurant immer noch gut besetzt. Die Begegnung mit den Gästen war ihr keine lästige Pflicht, sondern wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit. Zum einen sah sie sich nicht nur als Köchin, sondern auch als Gastgeberin und zum anderen konnte sie erst in diesem Dialog feststellen, ob ihre Arbeit gewürdigt wurde und was vielleicht doch noch verbessert oder verändert werden konnte. Neuen Impulsen gegenüber war Anna immer aufgeschlossen.
Dr. Burmester war der letzte Gast, an dessen Tisch sie an diesem Abend verweilte. Er war ein wohl situierter Rechtsanwalt und angesichts seines Alters von fast 70 Jahren, was man ihm überhaupt nicht ansah, nur noch in Ausnahmefällen in seinem Beruf tätig. Er war stets elegant gekleidet, mit einer flotten, sportlichen Note und in seinem Gesicht stand meist ein nachsichtiges Lächeln. Er war nicht so häufig in der ›Villa Floric‹, wenn er kam, war es meist an einem Freitagabend und in Begleitung einiger Herren seines Alters. Aber er legte Wert darauf, jedes Mal von den Chefs wahrgenommen und wie ein vertrauter Stammgast behandelt zu werden. Dann neigte er dazu, Anna Ratschläge geben zu wollen – nicht, was ihre Kochkunst betraf, bewahre. Er war mit den Speisen immer hochzufrieden und insgeheim fragte sich Anna, ob er deren exquisiten Standard überhaupt beurteilen konnte, denn sie hatte den Eindruck, dass sein Geschmack sich auf einem eher schlichten Niveau bewegte.
Seine Hinweise bezogen sich vielmehr auf allgemeine Lebensbereiche, in denen er sich ihr überlegen fühlte.
Als sie so neben ihm stand, nett anzusehen mit den widerspenstigen, blonden Locken, in der blütenweißen Kochjacke mit dem eingestickten Schriftzug ›Anna Floric – Cuisinière‹, nahm er wieder einmal ihre Hand und tätschelte sie – vorgeblich väterlich. Zum einen schien er es als ein Vorrecht seines Alters zu betrachten, junge Frauen anfassen zu dürfen, wenn ihm danach war, zum anderen stellte er sich gern als Freund der Familie dar, da er noch ihre früh verstorbenen Großeltern mütterlicherseits gekannt hatte.
»Aber nur flüchtig!«, wie ihre Tante Edith betonte, als Anna sie danach gefragt hatte.
»Und sie mochten ihn gar nicht besonders, wenn ich mich recht entsinne.«
Dr. Burmester hielt Annas Hand immer noch in seiner Rechten und sprach dabei mit seinen Tischgenossen, als ob sie gar nicht anwesend oder aber ein unverständiges, kleines Kind wäre.
»Wir können sie ja einfach danach fragen – bestimmt wird Mademoiselle Anna ihre Gründe haben.«
Die anderen alten Herren lächelten satt und nickten zustimmend und starrten Anna dabei fast die Kleider vom Leib, während Burmester sich leutselig an sie wandte:
»Meine Freunde und ich haben über das Arbeitslosenproblem gesprochen, das keine unserer Regierungen in den letzten Jahren in den Griff bekommen hat. Und nun würde uns einmal interessieren, warum Sie so viel ausländisches Personal
Weitere Kostenlose Bücher