Stein und Flöte
zu vergessen pflegt.«
Das wollte Einhorn nicht auf sich sitzen lassen, und so konnte Steinauge ein paar Tage später sein Heu einbringen und im oberen Teil seiner Höhle aufstapeln. Er hatte damit zu tun, bis es dunkel wurde, ließ sich dann in den letzten Ballen Heu hineinfallen und schlief sofort ein, betäubt von dem verwirrenden Duft der Kräuter, der einen verschütteten Traum in ihm wachrief, den Traum von einem Gesicht, das sich über ihn beugte, das Gesicht einer Frau, deren nahe Augen wie ein dunkler Himmel über ihm standen, an dem vielfarbige Sterne flirrten, und diese Frau lachte leise, während sie ihn anblickte, und sagte: »Bist du’s zufrieden, wie ein Bock unter Ziegen zu leben? Das hatte Arni eigentlich nicht im Sinn, als er dir den Stein gab und seinen Vers dazu sagte:
Suche den Schimmer,
suche den Glanz,
du findest es nimmer,
findst du’s nicht ganz.
Als er diese Worte hörte, war Steinauge zumute, als erwache er mitten in seinem Traum aus langem Schlaf oder als sei er endlose Zeit durch eine finstere Höhle gekrochen und sehe nun plötzlich die Sterne durch einen Ausstieg hereinblicken.
»Werde ich es je finden?« fragte er.
»Nicht hier bei den Ziegen«, sagte die Frau, und zugleich begann ihr Gesicht durchscheinend zu werden wie damals bei der Quelle am Rande des Krummwaldes.
»Laß mich nicht wieder allein!« sagte er. »Ich habe Angst, allein zu gehen.«
Das Gesicht war kaum noch wahrzunehmen, aber er hörte die dunkle Stimme noch sagen: »Auch Angst gehört dazu. Folge dem Schimmer! Und achte auf deinen Stein!«
Damit verlöschte das Gesicht, aber die letzten Worte hatten wie eine Warnung geklungen, die Warnung vor einer drohenden Gefahr. Er hatte ihren Klang noch im Ohr, als er aus dem Traum hochschreckte, und im gleichen Augenblick spürte er auch schon eine Bewegung vor sich im Heu und ein leichtes Zupfen an der Schnur, an der er seinen Beutel um den Hals trug. Er bewegte sich nicht, versuchte ruhig zu atmen wie ein Schlafender und wartete. Eine Zeitlang geschah nichts. Dann streifte ein glattes, kurzhaariges Fell seinen Hals, und gleich darauf machte sich irgend etwas an seinem Beutel zu schaffen. Ohne ein Geräusch zu machen, hob er langsam die Hand und packte dann jäh zu. In seinem Griff wand sich quiekend ein kleines, schlankes Tier und biß ihn sofort in den Finger. Er schrie auf, ohne seinen Griff zu lockern, und packte den Kopf des Tieres mit der anderen Hand so, daß es ihn nicht mehr beißen konnte. »Ich hätte gute Lust, dir den Hals umzudrehen«, sagte er wütend. »Wer bist du überhaupt? Und was willst du mit meinem Beutel?«
Statt einer Antwort stieß das Tier nur ein paar erstickte Laute aus. Man kann ja schlecht reden, wenn einem jemand den Mund zuhält. Zumindest klang das aber schon recht unterwürfig.
»Schwörst du, mich nicht mehr zu beißen, wenn ich deinen Kopf freigebe?« sagte Steinauge. »Der Schwur soll gelten, wenn du aufhörst, dich wie eine Schlange zu winden.«
Da erschlaffte das Tier derart vollständig, daß er zunächst meinte, er habe es umgebracht. Aber sobald er die Hand öffnete, mit der er dem Biest das Maul zugehalten hatte, sagte es sofort: »Ich bin ein Wiesel, und mein Name ist Nadelzahn, zu dienen.«
»Auf diese Art von Dienst kann ich verzichten«, sagte Steinauge, umklammerte das Wiesel vorsichtig mit der anderen Hand und leckte das Blut von seinem Finger. »Außerdem warte ich noch immer auf die Antwort auf meine zweite Frage.«
»Ich bitte dich tausendmal um Verzeihung, Träger des Steins«, sagte das Wiesel. »Es schien mir ein Gebot der Höflichkeit zu sein, mich zunächst einmal vorzustellen.«
Nachdem er durch Monate hindurch nur die schlichten, auf nichts anderes als auf die Notwendigkeiten des täglichen Lebens gerichteten Reden seiner Ziegen gehört hatte, kam Steinauge eine solche Ausdrucksweise erstaunlich vor. Noch befremdlicher erschien ihm jedoch der Name, mit dem ihn das Wiesel angesprochen hatte, wenn er auch eine vage Erinnerung weckte, die er jedoch in keinen sinnvollen Zusammenhang bringen konnte. »Nach dem Namen, den du mir gibst«, sagte er, »weißt du also, was in dem Beutel versteckt ist, den ich um den Hals trage.«
»So ist es«, sagte das Wiesel, »und ich sehe jetzt auch, daß ich es nicht hätte wagen dürfen, dein Eigentum anzutasten, du Herr mit den starken Händen, in deren Griff ein nichtswürdiges Wesen wie unsereins vergeht wie Wasser. Du bist selbst im Schlaf so wachsam wie einer, der
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