Stein und Flöte
vorwurfsvoll an, als habe er seine Verpflichtungen nicht erfüllt. Da schüttete er ihnen ein paar Eicheln und Holzäpfel vor, und das mußte er von nun an jeden Abend tun, so viel Mühe er sich auch gab, geeignete Futterplätze zu finden.
Zugleich ging mit ihm in dieser Zeit eine Verwandlung vor sich, von der er selbst kaum etwas merkte. Als er sich mit den Ziegen zusammengetan hatte, war seine Absicht gewesen, sich dieser Tiere zu bedienen und mit ihrer Hilfe den Winter zu überstehen, ein zwar bocksfüßiger Waldgänger, der jedoch noch gewohnt war, sich aufrecht zu halten und auf vierfüßige Wesen herabzublicken; ein Verstoßener, der unversehens zu einer Herde gekommen war, wenn er auch mit dem verletzten Bock verhandelt hatte wie mit einem gleichberechtigten Partner. Doch seit dem Tag dieses Vertrages hatte dann auch die eigenartige Verwandlung begonnen, die sich etwa darin zeigte, daß er einen gebückten Gang annahm, wenn er vom Waldboden Eicheln oder Feuerholz aufsammelte oder sich vor seiner Höhle zwischen den Büschen bewegte und unter ihren Zweigen Schutz suchte vor der beängstigenden Nacktheit des Himmels, in dessen unfaßbarer Tiefe vielleicht ein Falke schwebte und ihn mit seinen starren grünen Augen beobachtete.
Diese Haltung brachte ihn seinen Ziegen näher. Während sie anfangs für ihn eine Gruppe schwer unterscheidbarer Tiere gewesen waren, aus der sich nur der Bock heraushob, so lernte er jetzt nach und nach die Eigenart jedes einzelnen Tieres kennen und konnte sie bald alle beim Namen nennen, die sanfte Weißfleck etwa mit dem komischen hellen Haarpinsel zwischen den Hörnern, die launische Hinkfuß, die sich irgendwann, ehe er zur Herde gestoßen war, den rechten Hinterlauf verletzt hatte und seither in sonderbarem Hoppelschritt mit der Herde trottete, um ihr Gebrechen gelegentlich dazu auszunutzen, wie aus Versehen heimtückische Seitentritte auszuteilen, oder die behäbige Schleppeuter, die er inzwischen als weitaus freigiebigste Milchspenderin schätzen gelernt hatte. Ein Hirte mag zwar auch die Tiere seiner vertrauten Herde auf ähnliche Weise unterscheiden lernen, aber er steht aufrecht unter dem Himmel, blickt über sie hinweg wie über ein Besitztum und geht aus dem Wind, wenn ihm der Geruch der Tiere lästig wird. Steinauge wurde jedoch von Tag zu Tag mehr zu einem Mitglied der Herde, einer Art Leittier, eingeschlossen in den Dunstkreis der Leiber, und war sich seiner Andersartigkeit kaum noch bewußt; allenfalls spürte er gelegentlich den Rest einer dumpfen Erinnerung, daß er einmal in Häusern unter Menschen gelebt hatte.
Dann kam die Zeit der Schneestürme. Steinauge war an dem Tag, an dem das Wetter losbrach, mit seinen Ziegen draußen zwischen den Haselstauden gewesen, obwohl es den Tieren kaum noch gelang, ein paar Halme unter der Schneedecke hervorzuscharren. Schon seit dem Morgen waren sie unruhig gewesen, und auch er selbst fühlte eine lähmende Leere hinter den Augen, streifte rastlos durchs Gebüsch und spürte, daß sich irgend etwas näherte, das nicht aufzuhalten war. Dann sah er, wie sich über die Kante der Felswand eine zweite Wand emporschob, schwarz mit fransigen grauen Rändern, und wenige Augenblicke später fuhr schon der Sturm von der Höhe herab und fegte die ersten nadelspitzen Eiskristalle vor sich her.
Steinauge pfiff den Ziegen und trieb sie den Hang hinauf der Höhle zu. Eben hatte dort noch die Felswand in den Himmel geschnitten, jetzt hatten die waagerecht dahinjagenden Schneefahnen sie schon verschluckt. Das letzte Stück kämpfte er sich blind vorangelehnt gegen die fast körperhafte eisige Strömung, ertastete endlich den schon zur Hälfte zugewehten Einschlupf und ließ sich schließlich über den angehäuften Schnee in die Höhle gleiten.
Seine Ziegen waren leichter als er gegen den Sturm vorangekommen und warteten schon auf ihn. Während er ihnen Futter vorschüttete, wurde der Eingang vollends zugeweht und damit der letzte Rest von Tageslicht abgeschnitten. In der Dunkelheit war nichts weiter zu hören als das Sausen des Sturmes. Steinauge fachte das Feuer an und legte Holz auf, um die lähmende Kälte zu vertreiben, dann stieg er hinauf zu seinem Lager und wühlte sich in die Streu.
Das ziehende Pfeifen drang bis in seinen Dämmerschlaf wie das Sausen eines nicht endenwollenden Falles in bodenlose Abgründe, er stürzte in gestaltlose Räume der Angst, und als er schließlich in eisiger Erstarrung erwachte, war noch immer dieses
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