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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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Leittier wieder zu beanspruchen. Er war es jetzt, der die Herde herausführte und bewachte, und es klang fast widerwillig, als er eines Morgens sagte: »Du hast dein Versprechen eingelöst und die Herde gut durch den Winter gebracht, Steinauge. Den Sommer über sollst du sie jedoch meiner Obhut überlassen; im Winter kannst du mich dann wieder ablösen. Ich meine, das wäre die richtige Art, unsere Herrschaft zu teilen, wie wir beschworen haben.«
    »Willst du, daß ich euch verlasse?« fragte Steinauge bestürzt. Ein Leben ohne die Herde konnte er sich kaum noch vorstellen.
    »Das kannst du halten, wie du willst«, sagte der Bock und wetzte sein gewaltiges Horn an einer Felskante. »Ich werde dich nicht verjagen. Aber du solltest künftig ein wenig beiseite bleiben, damit meine Tiere wissen, an wen sie sich zu halten haben.«
    Das war es also. Der Bock begann, eifersüchtig zu werden. Steinauge konnte sich ein Grinsen kaum verbeißen. Jedenfalls hatte er nichts dagegen, nach den Strapazen dieses Winters die Verantwortung für die Herde vom Halse zu haben und ein bißchen zu faulenzen. »Ich werde mich danach richten«, sagte er, »aber vorderhand bleibe ich noch bei euch, denn ich habe hier noch etwas zu tun.«
    Von diesem Tag an schlief er zwar noch bei der Herde und genoß Nacht für Nacht die Nähe der ruhig atmenden Tiere, aber am Morgen ließ er sie ihrer Wege ziehen, setzte sich vor der Höhle unter einen Haselstrauch, an dem jetzt schon die Kätzchen stäubten, und wärmte sein Fell in der Sonne.
    Das abgebrochene Bockshorn hatte er den Winter über stets bei sich getragen, gewissermaßen wie einen Ausweis seiner Würde als Leittier der Herde, und wie er nun an einem Frühlingstag so dasaß und mit diesem Ding spielte, fragte er sich, was es jetzt noch für einen Nutzen haben sollte. Es lag gut in der Hand, die Querrillen fügten sich wie von selbst zwischen die Finger und machten es griffig. Das brachte ihn auf den Gedanken, ein Heft für sein Messer daraus zu machen. Er hatte zwar einige Mühe damit, aber schließlich saß die Klinge fest im unteren Ende des Horns und ragte mit der Spitze noch ein gutes Stück hervor. Dann wetzte er die Schneide an einem Stein, bis sie so scharf war, daß er ohne nennenswerten Widerstand ein Grasbüschel damit niedermähen konnte. Jetzt brauchte er nur noch zu warten, bis das Gras schnittreif war; denn das war die Arbeit, die er sich vorgenommen hatte.
    Ein paar Wochen später, nachdem fünf der Ziegen Junge geworfen hatten, war es dann soweit. Das Honiggras hatte seine weichen, rötlichen Rispen entfaltet, und dazwischen schaukelten die weißen Dolden von Kerbel und Pimpinelle, Schmetterlinge taumelten darüber hin, und in der Luft hing der Duft von Minze und Ruchgras. Wieder einmal machte Steinauge die Erfahrung, daß es ihm unmöglich war, auch nur zwei Schritte weit aus dem Schatten der Sträucher herauszutreten, und das lag wohl nicht nur an dem Falken, der hoch zwischen den Wolken über der Lichtung stand und herabzuspähen schien. So mußte Steinauge sich damit begnügen, das Gras am Saum des Gebüsches entlang abzumähen, so weit er mit seinem Messer reichen konnte.
    Am Abend kehrte die Herde von der Weide zurück und wollte sich gleich über das frisch geschnittene Futter hermachen. Als Steinauge die Ziegen auf die Wiese hinausscheuchte, trabte Einhorn mit drohend gesenktem Kopf auf ihn zu, blieb steifbeinig vor ihm stehen und sagte: »Warum vertreibst du meine Tiere? Willst du das alles allein fressen?«
    Steinauge lachte und versuchte, ihm zu erklären, daß er dieses Gras trocknen und für später aufheben wolle. Einhorn schüttelte befremdet den Kopf und sagte: »Ich habe noch nie von einem Bock gehört, der Gras abbeißt, um es dann liegen zu lassen. Du bist verrückt!«
    Da rammte Steinauge sein Messer vor sich in den Boden, daß das Horn aufrecht aus der Erde zu wachsen schien, und sagte: »Bei diesem Horn frage ich dich, Einhorn, ob dein Wort gilt, daß ich im nächsten Winter wieder die Herde führen soll.«
    »Warum diese Feierlichkeit?« fragte der Bock. »Ich werde mein Wort nicht brechen. Aber wer redet jetzt vom Winter? Der Wald ist eben erst grün geworden und das Gras saftig.«
    »Ich sehe schon, daß du nicht bis morgen denken kannst«, sagte Steinauge. »Wenn du deine Ziegen nicht von dem geschnittenen Gras fernhältst, werde ich dir die Sorge für die Herde im nächsten Winter überlassen und jedem sagen, daß Einhorn seine Schwüre allzu rasch

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