Stein und Flöte
Sommern dazwischen dieses Tal entlanggezogen? Was hat mir das eingebracht? Ein bißchen Sehnsucht, ein bißchen Schmerz, ein bißchen Enttäuschung und jetzt die Erkenntnis, daß all dies Gerenne völlig sinnlos gewesen ist.«
»Gerenne ist meistens sinnlos«, antwortete der Zirbel. »Das sage ich dir ja nicht zum ersten Mal. Was willst du jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Steinauge. »Ich habe alles verloren, worauf ich meine Hoffnung gesetzt hatte. Meinen Stein habe ich um nichts und wieder nichts aus der Hand gegeben, auf meiner Flöte versucht jetzt wahrscheinlich irgendein Beutereiter nach seinem Gaul zu pfeifen, und wenn ich überhaupt je Freunde gehabt haben sollte, dann liegen sie erschlagen zwischen den Hütten, und die Krähen fressen sich an ihren Leichen satt. Und all dies ist durch meine Schuld geschehen.«
»Wenn du das einsiehst, dann ist ja noch nicht alle Hoffnung verloren«, sagte der Zirbel.
»Hoffnung?« Steinauge sprach dieses Wort aus, als habe ihn der Zirbel verspotten wollen. »Ich weiß nicht, was du darunter verstehst. Worauf sollte ich denn jetzt noch hoffen?«
»Jedenfalls nicht auf etwas, das du dir nach deinen Vorstellungen einrichten kannst«, sagte der Zirbel. »Das war ja überhaupt der Irrtum, daß du die Dinge immer in die Richtung zwingen wolltest, die dir nützlich schien. Ich bin ein paar hundert Jahre oben auf dem Joch gestanden, ohne jede Möglichkeit, irgend etwas von mir aus in Bewegung zu setzen, aber ganz ohne Hoffnung bin ich in dieser Zeit nie gewesen.«
»Bin ich ein Baum?« sagte Steinauge achselzuckend, doch nach einer Weile fügte er hinzu: »Jetzt bin ich allerdings an einem Punkt angelangt, wo ich mir wünschen könnte, ich wäre einer. Einstweilen will ich erst einmal hierbleiben. Vielleicht wachse ich an wie die Birkenmädchen.«
Der lange Weg hatte Steinauge nun doch hungrig gemacht. Er kramte die letzten Haselnüsse aus seiner Tasche, und dabei stießen seine Finger auf das rundliche Gefäß, das er in Narzias Haus zu sich gesteckt hatte. Er nahm es heraus und versuchte noch einmal die Schrift auf dem Zettel zu entziffern, und hier in der Helligkeit des Frühlingstages traten alle Buchstaben wieder deutlich hervor:
Stehst nach tausend Runden
vor dir selbst erschreckt,
wird dir dieses munden,
wenn’s auch bitter schmeckt.
Wirst in Stein gebunden,
bleibst im Stein versteckt,
wirst du nicht gefunden,
wirst du nicht entdeckt.
Da schien ihm auf einmal, als halte er hier die Antwort auf all seine Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in den Händen. Er ließ die Nüsse achtlos ins Gras fallen, stand auf und brach den Verschluß des versiegelten Krügleins auf. Er wollte nichts weiter, als hier an dieser sprudelnden Quelle stehen und in das Tal hinausschauen; denn es gab keinen Ort mehr, zu dem er hätte wandern wollen.
»Bleibst du bei mir, Zirbel?« sagte er. »Vielleicht werde ich für alle Zeiten hier stehenbleiben.«
»Was denn sonst?« sagte der Zirbel. »Ich bin dir zum Gefährten beigegeben worden, das weißt du doch.«
Da packte Steinauge den Zirbel fest mit der Rechten, hob mit der andern Hand das Gefäß zum Mund und trank es auf einen Zug leer. Die Bitterkeit des Getränks zog ihm jäh den Gaumen zusammen, und dann spürte er, wie der zauberische Saft des Meisters der Kräuter sich rasch in seinem Körper ausbreitete. Als er seinen Stand noch ein wenig verändern wollte, merkte er, daß er seine Hufe nicht mehr bewegen konnte, denn sie waren schon eins geworden mit dem Fels, auf dem sie ruhten. Die Versteinerung stieg langsam in seinen Gliedern auf, brachte sein Herz zum Schweigen, erreichte seine Schultern, das Kinn, den Mund, die Augen, und schloß sich über seinem Scheitel. Im Schatten des Ahorns stand über der Quelle reglos die graue Figur eines Fauns, und bald darauf setzte sich ein Rotkehlchen auf seinen Kopf und sang.
Zweiter Teil
Grün. Er sah Grün, ringsum die unterschiedlichsten Schattierungen und Abstufungen von Grün, helles, lichtdurchflutetes Grün, dunkelschattiges, bläuliches und bräunliches Grün. Er sah es nicht mit seinen Augen, die bewegungslos und steinern in seinem Schädel lagen; die Empfindung des Grünen drang unmittelbar von allen Seiten in sein Bewußtsein ein und füllte es aus. Nach oben zu mischten sich hellblaue Töne dazu, und nach unten hin wurden die Farben tiefer und satter bis hin zu bräunlichem Violett, das aufgehellt wurde von blinkenden Spiegelungen, die hie und da aufblitzten, um im
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