Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
Vom Netzwerk:
eigenes Verderben ins Nest geholt hat. Ich weiß schon, bei uns hat man sich bisher nicht viel um solche Dinge wie Ehre gekümmert, sondern mehr um Sachen, die man fressen kann. Aber hier geht es um etwas, das wichtiger ist, als daß sich einer nur einen großen Namen damit macht. Was dieser Stein bedeutet, kann auch ich euch nicht genau sagen, aber er gehört wohl zu jenen Geheimnissen, die das Leben aller Wesen bewahren helfen. Ihr könnt mir glauben, denn von dergleichen verstehen wir Frauen mehr als ihr Männer. Man sagt ja, daß dieser Stein von einer Frau bewahrt wurde. Tut also, was jener sagt, den man ›Der-mit-der-Schlange-spricht‹ nennt.«
    Der Mäuserich in der Mitte hatte aufmerksam zugehört. Jetzt ging er auf die alte Maus zu, verbeugte sich tief und sagte: »Du hast mich beschämt, Mutter unseres Rats, und hast bessere Worte gefunden, als ich je hätte finden können. Ich danke dir!« Dann verbeugte er sich noch einmal, und nun standen auch die anderen Mäuse auf, und jede sagte, in welche Richtung sie auf die Suche gehen wollte.
    Auch ein junger Mäuserich, der während der Beratung schweigend in einer Ecke gesessen und zugehört hatte, machte sich auf den Weg und sagte: »Ich will einmal oben bei der Felswand nachschauen.« Er schlüpfte durch einen engen Gang, kam unter einem Haselstrauch zutage und blickte sich aufmerksam sichernd nach allen Seiten um, ehe er zielstrebig hangaufwärts durch Buschwerk und aufschießendes zartes Waldgras huschte. Bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, daß er einem schmalen, von winzigen Mäusepfoten ausgetretenen Pfad folgte, der in zahllosen Windungen Hindernissen und freien Flächen auswich, auf denen man keine Deckung hatte. Schließlich führte der Pfad aus dem Schatten der hohen Bäume heraus in freieres Gelände, das übersät war von Felsbrocken und dem herabgestürzten Schotter der Felswand, die über dem Hang ungeheuer hoch in den Himmel ragte. Der Mäusejunge suchte sich einen geschützten Platz unter einem Heckenrosenstrauch, setzte sich in aller Ruhe hin und beobachtete den Himmel.
    Lange Zeit hindurch geschah nichts von Bedeutung. Das Zirpen von Grillen brachte die Luft zum Zittern, hie und da klang aus dem Wald das sanfte Flöten eines Vogels oder das Knacken eines dürren Astes unter dem Tritt eines Tieres. Der blaue Himmel stand leer über dem Hang, in die Hälfte geschnitten von der gezackten Kante der Felswand. Dann straffte sich plötzlich die kleine, pelzige Gestalt des Mäusejungen, und sein bisher eher schläfriger Blick richtete sich gespannt auf einen dunklen Punkt, der fern über dem Wald am Himmel aufgetaucht war, sich rasch näherte, bald ausgebreitete Schwingen zeigte und dann auch schon über die Kronen der Bäume heranstrich. Der Mäusejunge duckte sich noch tiefer unter die dornigen Ranken, aber seine schwarzen Augen folgten dem Flug des Vogels, der jetzt deutlich als Falke zu erkennen war, als er in mäßiger Höhe über den Hang glitt. Es sah fast so aus, als wolle er sich an der Felswand den Schädel einrennen, doch im letzten Augenblick bremste er flügelschlagend seinen Flug ab und ließ sich auf einer Felskante nieder, unter der in einer Spalte ein magerer Busch seine Zweige über den Abgrund reckte. Dort blieb er eine Zeitlang hocken und machte sich in einem wirren Haufen von dürren Zweigen zu schaffen. Dann spähte er hinaus über den Hang, als wolle er sich versichern, daß ihn keiner beobachtete, und als ihm die Luft rein zu sein schien, schwang er sich von seinem Sitz hinaus ins Leere, zog noch einen Kreis über dem Gelände und flog rasch über die Wälder davon.
    Der Mäusejunge wartete noch eine Weile und schaute immer wieder zum Himmel. Schließlich krabbelte er aus seinem Versteck und huschte rasch hinüber zum Fuß der Felswand zu jener Stelle, an der die Spalte, in der oben dieser Busch wuchs, unten den Boden erreichte. Und dann begann er, in diesem Felsenriß nach oben zu klettern: Vorsichtig tastete er sich von Tritt zu Tritt, rutschte einmal schrill aufschreiend mit einem losen Stein wieder ein Stück in die Tiefe, fing sich aber und gelangte nach und nach höher. Endlich erreichte er die in den Spalt gezwängten und vom Regen teils freigewaschenen Wurzeln des Strauchs, und von da aus war alles nur noch ein Kinderspiel. Er hangelte sich hinauf bis zu dem unordentlich zusammengeworfenen Horst, kroch durch das aufgehäufte Gestrüpp, und als er oben seine Nase zwischen dürren Zweigen herausstreckte, lag vor

Weitere Kostenlose Bücher