Stein und Flöte
Verästelungen, die von Mal zu Mal dünner wurden, bis sie schließlich in Zweigen endeten, an denen zwischen handförmig gespreizten Blättern jene Flügelbüschel hingen. Ein Baum ist das, dachte er und sah, wie sich schon wieder weitere dieser Flügel lösten und in rasender Drehung hinabtrudelten.
Einer von ihnen erreichte den Grund am Rand einer in unzähligen Spiegelungen blinkenden, durchsichtigen Fläche, die aus der Tiefe von einem sprudelnden Auftrieb in ständiger Bewegung gehalten wurde, und jetzt hörte er auch leises Glucksen und Plätschern und wußte, daß dies eine Quelle war. Auf dem sandigen Grund schimmerten glatte Kiesel, rötliche und braune, graublaue und grünlich gesprenkelte, und was zwischen ihnen emporquoll, das gerundete Becken füllte und durch eine Öffnung in der Umrandung glucksend davonfloß, nannte man Wasser. Er empfand diesen Anblick als etwas Kühles, Erfrischendes und verfolgte die Schnüre von winzigen Perlen, die vom Grund aufstiegen und an der Oberfläche zu feinen Spritzern zerplatzten.
Dann lenkte ihn eine neue Bewegung am Rande des Beckens ab. Dort war von irgendwoher ein kleines, pelziges Wesen mit langem, dünnen Schwanz herangehuscht, hockte nun neben der Quelle und putzte mit den Vorderpfoten die zierlich gespreizten Schnurrbarthaare. Dann tauchte es seine spitze Schnauze ins Wasser und trank. Ich kenne dich, dachte er, du bist eine Maus. Da hob die Maus den Kopf, schaute in die Höhe und sagte: »Ich weiß nicht, ob du mich verstehen kannst, Steinauge, denn du siehst nicht so aus, als wäre noch Leben in dir. Aber meine Botschaft will ich dennoch ausrichten.«
Wen meint sie, dachte er. Wen redet sie an? Und während er seine volle Aufmerksamkeit diesem Tierchen zuwendete, weitete sich unversehens der Bereich, den er überschauen konnte. Er blickte hinweg über endlose, von sanften Höhenzügen wellig zerteilte Wälder zu einem Gebirgskamm, der im gleichen Augenblick schon unter ihm lag, und tauchte hinab über eine steil abbrechende Felsmauer, hinunter zwischen Buschwerk und Unterholz, schlüpfte in ein daumendickes Loch und durch einen engen Gang in eine dunkle Höhle und konnte dennoch alles deutlich sehen, was hier geschah. Rings an den Wänden saßen dichtgedrängt zahllose Mäuse und blickten mit ihren glänzenden schwarzen Augen auf einen Mäuserich, der in der Mitte hockte und zu ihnen sprach: »Sucht an jeder Stelle, an der sich ein Falke niederlassen kann!« sagte er. »Schwärmt aus und sagt es jedem aus unserem Volk, den ihr unterwegs trefft! Jeder soll nach dem Stein suchen, bis er gefunden ist.«
Nach einer Weile stand einer der Mäuseriche aus dem Kreis auf und sagte: »Es kann gefährlich sein, etwas zu suchen, das ein Falke für sich auf die Seite gebracht hat. Warum sollen wir unser Leben aufs Spiel setzen um irgendeines Steines willen, den man nicht einmal fressen kann?« Einige aus der Versammlung nickten beifällig, als er das gesagt hatte.
Da richtete sich der Mäuserich in der Mitte auf, streckte sich so hoch wie er nur konnte und sagte: »Weißt du überhaupt, wer ich bin? Ich bin ›Der-mit-der-Schlange-spricht‹, und das müßte schon Grund genug sein, daß ihr mir zuhört und dann tut, was ich euch sage. Aber da ist noch etwas: Dieser Stein ist nicht irgend ein Stein. Er gehört zu den größten Kostbarkeiten, die es auf der Welt gibt; vielleicht ist es sogar die größte. Seit langer Zeit wird er von einem zum anderen weitergegeben, und jeder dieser Träger des Steins hat ihn auf eine Weise in Ehren gehalten, als hinge sein Leben daran. Aber wer ihn stiehlt, dem bringt er Unglück. Ihr braucht also keine Angst vor diesem Falken zu haben, denn er ist schon so gut wie verloren. Und außerdem: wird es nicht für unser Volk eine große Ehre sein, daß einer von uns zum Hüter dieses Kleinods erwählt worden ist? Nach vielen Generationen wird man noch in unseren Höhlen und Löchern davon erzählen.«
Eine Zeitlang saßen alle schweigend da, blickten vor sich hin und schienen wenig Lust zu haben, dieser Aufforderung zu folgen. Dann stand eine uralte Maus auf, strich über ihre schneeweißen Schnurrbarthaare und sagte: »Was seid ihr doch alle für Feiglinge! Es ist schon gut, daß bei uns Mäusen auch Frauen eine Stimme in der Beratung haben, und nicht die bedeutungsloseste, wie ich meine. Ich sage euch also: Wenn einer von euch mit einer Schlange gesprochen hat, dann werdet ihr wohl auch noch mit diesem Falken fertig werden, der sich sein
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