Stein und Flöte
allem, was in den letzten Tagen geschehen war, hatte er geglaubt, nicht mehr an diesem Leben zu hängen, in dem ihm jede Hoffnung verloren schien; doch nun spürte er, wie sein Körper vor Todesangst zitterte, während sich seine schweißnassen Hände um das schlanke Stämmchen krampften. So lag er am Boden und wartete auf das scheußliche Ende unter den Zähnen der Bestie, doch der Wolf sprang ihn nicht an, sondern begann, ihn in einem Abstand von wenigen Schritten zu umkreisen. Jedesmal, wenn er versuchte, in diesen Kreis einzubrechen, sah es so aus, als stoße er auf eine unsichtbare Mauer, und dann hob er den Kopf und heulte schaurig in die Nacht hinaus.
Nachdem das eine Weile so gegangen war, begriff Steinauge allmählich, daß er hier in Sicherheit war. Ohne das Bäumchen aus den Händen zu lassen, richtete er sich ein wenig auf und sah sich den Platz an, auf dem er sich befand. Hinter ihm lag der umgestürzte Stamm einer Wetterfichte, aus dem knorrige Aststümpfe nach allen Seiten herausstachen. Das war das Hindernis gewesen, über das er gestürzt war. Die junge Eberesche war an jener Stelle aus dem Boden aufgeschossen, an der sich einmal der Wurzelstock des Baumes befunden haben mußte. Jemand hatte das Loch zugeschüttet und das Bäumchen eingepflanzt, und dann wußte er auf einmal, was dies für ein Platz war und wer ihn hier vor diesem wiedergängerischen Wolf gerettet hatte. »Danke für deine Hilfe, Gisa«, sagte er. »Nun hast du mir das Leben gerettet, obwohl ich dich hier auf dieser Bergwiese umgebracht habe.« Und als er keine Antwort erhielt, fügte er nach einer Weile hinzu: »Allerdings frage ich mich, ob es dafürsteht, mein Leben zu bewahren.«
Während er noch lauschte, ob nicht doch eine Antwort kam, vielleicht eine, die ihm widersprach, spürte er, wie die herabhängenden Fiederblätter im leichten Nachtwind über ihn hinwegstrichen wie eine beruhigende Hand. Vielleicht war auch das schon eine Art von Antwort. Er fühlte, wie sich sein Körper unter der zärtlichen Berührung entspannte, während draußen noch immer das Untier seine Kreise zog, und dann schlief er ein.
Als er aufwachte, stand schon die Morgensonne am Himmel und schien durch den hellgrünen Blättervorhang der kleinen Eberesche auf sein Gesicht. Er löste seine Hände von dem Stämmchen, das er auch im Schlaf weiter umklammert gehalten hatte, und stand auf. Der Wolf war verschwunden, aber drei Schritte weiter fand Steinauge im kurzen Berggras zwischen Primeln und Enzianblüten die gebleichten Knochen eines Gerippes, das sehr wohl einmal einem gewaltigen Wolf hätte gehört haben können.
Dieser Anblick bestärkte ihn darin, sich hier nicht mehr länger als nötig aufzuhalten. Er suchte seine Tasche, die er bei seiner kopflosen Flucht verloren hatte, umrundete dann die Bergkuppe und stieg auf der anderen Seite hinunter zum Flachtal.
Sobald er zwischen den Bäumen auf den Wiesengrund hinausblicken konnte, spähte er wieder hinüber zu den Hütten und Ställen, aber dort hatte sich nichts verändert. Dann wanderte er weiter talaufwärts, bis die bewaldeten Hügel allmählich wieder zusammenrückten. Der Talboden begann sich hier mit lockerem Erlengehölz zu füllen, in dessen Schutz Steinauge schließlich bis zum Bach vordringen konnte, um seinen Durst zu stillen. Er schöpfte sich mit der hohlen Hand ein paar Schlucke von dem kalten, klaren Wasser und folgte dann dem Bachlauf, bis er in einem lichten Bestand von Birken das Quellbecken unter dem gewaltigen Ahornbaum erreichte. Hier, wo er einmal vor langer Zeit mit den Birkenmädchen gespielt hatte, wollte er erst einmal bleiben. Er setzte sich auf eine Felsstufe über der Quelle und schaute zurück in die Niederung. Zwischen den schlanken, weißschimmernden Birkenstämmen und den dunkelgrün am Bachufer hockenden Erlenbüschen öffnete sich der Blick über das Wiesengelände, in dem die weiten Windungen des Baches unter der Sonne glänzten. Irgendwo in der dunstigen Ferne mußten die Hirtenhäuser stehen, aber von hier aus konnte man sie nicht mehr erkennen.
Ihm schien überhaupt, als sei alles, was er bis vor kurzer Zeit für wichtig gehalten hatte, plötzlich weit entfernt wie Dinge, die ihn nichts mehr angingen, und er fragte sich, ob es wirklich noch etwas gab, das ihn an dieses Leben fesselte. »Das sag du mir einmal, Zirbel«, sprach er seinen hölzernen Gefährten an. »Wozu habe ich nun eigentlich drei Winter bei den Ziegen verbracht und wozu bin ich in den
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