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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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leicht schwankenden Wiege und griff mit ihren kleinen Händen nach den geschnitzten Tieren auf der Balustrade. »Einhorn!« sagte sie und versuchte eine grimmige Miene zu ziehen, denn der Bock sah in der Tat ein wenig mürrisch aus. »Jalf!« rief sie dann, packte auf der gegenüberliegenden Seite den springenden Esel und krähte vor Lachen.
    »Ich weiß gar nicht, wer ihr beigebracht hat, wie die Tiere heißen«, sagte der Schmied. »Vielleicht hat Urla ihr von ihnen erzählt, obwohl Rikka eigentlich noch zu klein ist, um diese Geschichten zu begreifen.«
    Doch es zeigte sich, daß sie recht gut Bescheid wußte, denn jetzt drehte sie sich zu den drei Mäusen auf dem Kopfende um, zeigte der Reihe nach mit denn Finger auf sie und sagte: »Schlange spricht, Falken sagt, Hoffnung gibt«, und Lauscher sah mit Erstaunen, daß sie genau wußte, welchen Namen jede der Mäuse trug.
    Er zog sich einen Hocker heran, setzte sich dicht neben die Wiege und schaute dem lachenden Kind in die Augen, in denen sich auf eine schwer zu beschreibende Weise blaue, grüne und violette Sprenkel mischten. »Du kennst sie ja schon alle drei auseinander«, sagte er. »Ja, der dritte Mäuserich, den man ›Der-die-Hoffnung-nicht-aufgibt‹ nannte, war der jüngste von ihnen. Tapfer waren sie alle drei, aber dieser konnte etwas, das Jungen sonst nur schwer lernen: Er konnte warten. Manche lernen das überhaupt nie. Doch dieser Mäuserich konnte das, und er konnte es deshalb, weil er an etwas ganz Verrücktes glaubte. Er glaubte nämlich, daß ein Stein lebendig werden könne. Stell dir das einmal vor: ein durch und durch harter, lebloser Stein, und obendrein auch noch ein ziemlich gewaltiger. Manche haben den Mäuserich ausgelacht deswegen und gesagt: Der ist ja selber verrückt! Aber er ließ sich nicht davon abbringen. So saß er da nun Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr, betrachtete den Stein und wartete. Als dann noch immer nichts geschah, gab er die Hoffnung nicht auf, sondern überlegte, wie man den Stein zum Leben wecken könnte. Man müßte ihn liebhaben, dachte er; denn wenn man einander liebt, wird neues Leben geweckt. Er mochte den Stein gern, aber der war viel zu groß, als daß er ihn mit seinen Mäuseärmchen hätte umfassen können. Deshalb begann er nach jemandem zu suchen, der den Stein auf die richtige Weise lieben könnte.
    Da begegnete er einer jungen Frau, welche die gleichen Augen hatte wie du. Sobald er dieser Frau in die Augen geschaut hatte, wußte er, daß nur sie die richtige sein konnte, aber es war für einen kleinen Mäuserich gar nicht so einfach, mit dieser Frau, die so viel größer war als er selbst, ins Gespräch zu kommen. Nicht, daß sie Angst vor ihm gehabt hätte! Nur dumme Leute fürchten sich vor Mäusen und sehen dabei gar nicht, wie hübsch sie sind. Aber zunächst bemerkte sie ihn überhaupt nicht, wenn er durch das hohe Gras hinter ihr herlief, doch der Mäuserich gab trotzdem die Hoffnung nicht auf.
    Eines Tages sah sie ihn dann doch. Sie beugte sich zu ihm herunter, streichelte sein weiches, samtiges Fell und gab ihm ein paar Bröckchen von ihrem Brot. Aber sie konnte nicht verstehen, was der Mäuserich mit seiner feinen, hohen Stimme zu ihr sagte, ließ ihn schließlich im Gras sitzen und ging davon.
    Was hätte er jetzt noch tun sollen? Mancher wäre nach Hause gegangen und hätte sich um all das nicht mehr gekümmert. Doch so einer war dieser Mäuserich nicht und gab die Hoffnung noch immer nicht auf. Er fing vielmehr an, alle möglichen Leute nach dieser Frau zu fragen, und so erfuhr er, daß sie zwar nicht mit Mäusen, aber mit Fischen reden könne. Die das ihm erzählte, war eine alte, ziemlich dicke Kröte mit schönen goldenen Augen, und da Kröten sich immer in der Nähe des Wassers herumtreiben und manchmal auch in diesem oder jenem Teich herumplatschen, verstehen sie auch ein bißchen von der Sprache der Fische, und so bat der Mäuserich die Kröte, seine Botschaft den Fischen weiterzusagen. Auf diese Weise erfuhr dann schließlich auch die junge Frau von dem Stein.
    Nun stellte sich heraus, daß sie schon lange nach diesem Stein gesucht hatte. Als sie hörte, wo er zu finden war, lief sie zu ihm, und als sie ihn sah, nahm sie ihn in die Arme, wärmte ihn und hatte ihn lieb. Und da erwachte der Stein endlich zum Leben, regte sich, hob seine Arme und legte sie um die Frau. Der Mäuserich aber, der so lange auf diesen Augenblick gewartet hatte, freute sich, und seither nannte

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