Stein und Flöte
immer noch von einer erstaunlichen Rüstigkeit zu sein schien, vom Pferd herab die Hand und sagte: »Ich freue mich, daß ich dich wieder einmal treffe. Es sieht so aus, als hätten wir den gleichen Weg.«
»Ja«, sagte der Alte. »Diesmal will ich dich gern ein Stück weit begleiten, wenn du dein Pferd langsam genug gehen läßt.«
»Das wird Blondschopf nur recht sein«, sagte Lauscher. »Er hat schon eine Menge Jahre auf dem Buckel.«
Eine Zeitlang trotteten sie schweigend nebeneinander her, der Alte zu Fuß und Lauscher zu Pferd, und dann sagte der Steinsucher: »Wie ist es dir ergangen, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben? Hast du die Hoffnungen erfüllen können, die man in Arziak auf dich gesetzt hatte?«
Lauscher blickte dem Alten in das zerfurchte Gesicht und sagte nach einer Weile: »Ich weiß es nicht. Um das Unglück aufzuhalten, das sich dort anbahnte, bin ich zu spät gekommen, und ich weiß auch nicht, ob ich es hätte verhindern können, wenn ich früher dagewesen wäre. Meine Tochter Urla hat dieser Streit zwischen ihren Brüdern jedenfalls das Leben gekostet, doch durch ihren Tod hat sie zugleich ihre Brüder miteinander versöhnt.«
»Sie trug doch den Stein«, sagte der Alte, als sei damit alles erklärt.
»Ja«, sagte Lauscher. »Und mir kommt es jetzt so vor, als hätte ich sie mit diesem Geschenk selbst getötet; denn soviel habe ich schon begriffen, daß dieser Stein sie darin bestärkt hat, zwischen ihre Brüder zu treten, um zu verhindern, daß einer den anderen erschlägt.«
»Das ist richtig, was du von dem Stein sagst«, entgegnete der Alte. »Er hat sie darauf vertrauen lassen, daß die Liebe stärker ist als der Haß. Und hat sie damit nicht recht behalten?«
»Wenn man es so betrachtet, hat sie das«, sagte Lauscher, »aber nun lebt sie nicht mehr.«
»Was soll denn das nun wieder heißen?« sagte der Alte. »Du tust so, als wüßtest du überhaupt nicht, was Leben bedeutet. Hast du nicht selbst deiner kleinen Enkeltochter oder vielleicht auch ihrem Vater die Geschichte von dem leblosen Stein erzählt, der lebendig wurde, weil ihn jemand liebte?«
»Woher weißt du das?« fragte Lauscher, und als er keine Antwort darauf erhielt, fuhr er fort: »Außerdem war das nur eine Geschichte über Dinge, die ich selbst erlebt habe.«
»Das weiß ich doch«, sagte der Alte. »Aber was besagt das schon? Du scheinst dennoch den Sinn dieser Geschichte selber noch nicht begriffen zu haben.« Er machte eine Pause, um wieder zu Atem zu kommen, und sagte dann: »Wie war das denn nun: Hat man dich nicht als Flöter in Arziak gebraucht?«
Lauscher nickte. »Belarni hatte wohl dergleichen im Sinn gehabt, als er mich herbeiwünschte«, sagte er. »Aber ich habe dann nicht viel mehr tun können, als für die Kinder nur ein paar Liedchen auf meiner Flöte zu spielen.«
»Ist das nichts?« sagte der Alte. »Du hast damit wenigstens verhindert, daß auch noch die Kleinen Dölis Spottlieder nachgesungen haben, und ihn selbst hast du damit ganz schön in Unsicherheit gestürzt.«
»Unsicher kam er mir aber gar nicht vor«, sagte Lauscher. »Nur wütend.«
»Wütend seid ihr immer nur über eure eigene Unsicherheit«, sagte der Alte lächelnd. »Döli merkte plötzlich, daß in seinen Liedern etwas fehlte, und als Flöter war er dann doch wieder zu begabt, um zu überhören, daß genau dieses in deinen kleinen Liedchen enthalten war, und das machte ihn so unsicher.«
»Was soll das denn gewesen sein?« fragte Lauscher.
»Auch das solltest du eigentlich wissen«, sagte der Alte, »denn aus deiner Musik war es herauszuhören, solange dich nicht selber die Wut packte: Der Glaube daran, daß es das Gute gibt und daß kein Mensch die Macht hat, es außer Kraft zu setzen. Selbst Narzia hat mit all ihrem bösen Zauber nicht verhindern können, daß ihr letztlich alles zum Guten ausschlug.«
»Schneefink wußte das«, sagte Lauscher.
»Er spielt jetzt ja auch auf deiner silbernen Flöte«, sagte der Alte, und das klang schon wieder wie eine Erklärung.
Inzwischen hatten sie den Schauerwald erreicht. Rechts und links des Pfades standen die vom Sturm gebrochenen, oft bis zu grotesken Formen entstellten und dennoch immer aufs neue zum Himmel aufstrebenden Wetterfichten, über und über behängt mit zerzausten grauen Bärten.
»Was hast du jetzt eigentlich vor?« fragte der Steinsucher.
»Ein bißchen Drechseln«, sagte Lauscher. »Holz gibt’s hier ja genug, aus dem sich etwas machen
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