Steinbrück - Die Biografie
offener zutage. Das rührte an seinem Gerechtigkeitssinn. Besonders empört hat ihn, dass in bürgerlichen Kreisen und Medien aggressiv über die demonstrierenden Studenten und die politische Linke gesprochen wurde, während man die Verfehlungen und Verbrechen der nationalsozialistischen Vergangenheit mit Nachsicht behandelte oder nach Möglichkeit sogar totschwieg.
Schon als Schüler zog es ihn immer häufiger zu politischen Veranstaltungen. Anders als heute lockten die Kundgebungen der Parteien und Gewerkschaften in den Sechzigerjahren noch Tausende Menschen an, sei es unter freiem Himmel oder in den großen Hallen der Städte. Der erste Spitzenpolitiker, den Steinbrück persönlich erleben wollte, war allerdings kein Sozialdemokrat, sondern Ludwig Erhard. Der Mann mit der Zigarre führte 1965 nach dem Ende der langen Regierungszeit Adenauers die Unionsparteien als Spitzenkandidat in den Bundestagswahlkampf. Steinbrück ging neugierig in die voll besetzte Hamburger Ernst-Merck-Halle, um den »Vater des Wirtschaftswunders« zu hören und sich ein eigenes Bild von dem berühmten Politiker zu machen. Doch Ludwig Erhard löste bei dem Schüler keine Begeisterung aus, er kam einfach nicht rüber, wie man salopp sagt. Zu groß war wohl der Generationenunterschied, zu sehr erinnerte Erhard mit seinem altväterlichen Auftreten an die üblichen Autoritäten, denen der Achtzehnjährige mit zunehmender Skepsis gegenüberstand. Ähnlich wie die meisten Lehrer oder der eigene Vater verkörperte das Zugpferd der CDU für Steinbrück keinen Aufbruch, sondern einen Kurs des »Weiter so«. Der äußerliche Frieden und die Selbstzufriedenheit der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft sollten möglichst nicht gestört werden.
Das erste eigene politische Engagement zeigte Steinbrück etwa zur gleichen Zeit in Beiträgen für eine Schülerzeitung, die er am Wirtschaftsgymnasium gemeinsam mit Freunden und Gleichgesinnten herausgab. Die Nachwuchsjournalisten bemühten sich dabei sehr um publizistische Ernsthaftigkeit. Unterhaltsames war eher verpönt. Auch Nützliches wie Tipps für Tanzkeller oder für Bands, die in Hamburg gastierten, interessierten die Redaktion kaum. Man war streng politisch – und stolz darauf. Gleich in der ersten Ausgabe gelang den Schülerredakteuren ein Coup, nämlich ein Interview mit einem echten Kommunisten. Steinbrück kann sich heute weder an den Namen des Mannes erinnern noch an den genauen Wortlaut des Gesprächs. Hingegen weiß er genau, welche Reaktionen das Interview auslöste. Der Innensenator persönlich regte sich nämlich darüber auf, dass der hoffnungsvolle Nachwuchs an einem Hamburger Gymnasium offenbar nichts Besseres zu tun wusste, als ein KPD-Mitglied, also einen erklärten Klassenfeind, zu interviewen. Es gab mächtig Ärger, was Steinbrück und der gesamten Redaktion allerdings nur recht war, denn genau das hatten sie von Anfang bezweckt: bei den Mitschülern auffallen und »die Alten« ordentlich provozieren.
Die Autoren des Interviews wurden sogar bei der Innenbehörde vorgeladen und mussten einige dämliche Fragen über sich ergehen lassen, wie Steinbrück mit nach wie vor erkennbarer Freude erzählt. Der Innensenator war damals übrigens kein Geringerer als Heinz Ruhnau, Sozialdemokrat vom rechten Parteiflügel und ein Freund klarer, gerne auch zackig formulierter Ansagen. Später, in der Regierungszeit von Helmut Schmidt, wurde er Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium und 1982, im Zuge der fortschreitenden Privatisierung der Lufthansa, schließlich deren charismatischer Vorstandsvorsitzender. Der Mann mit der rauen Stimme und dem norddeutschen Habitus hat es geschafft, nicht nur als Manager in Erinnerung zu bleiben, sondern ebenso als Politiker einen kleinen, aber festen Platz in der Geschichte der SPD einzunehmen. Gemeinsam mit Hans-Jochen Vogel, Georg Leber und Helmut Schmidt gründete Ruhnau den sogenannten »Godesberger Flügel«, einen Vorläufer des Seeheimer Kreises, in dem sich bis heute der eher rechts ausgerichtete Teil der Sozialdemokratie trifft, übrigens auch Peer Steinbrück.
Ruhnau und seine Mitstreiter wollten seinerzeit, als Ende der Sechzigerjahre die ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der SPD zunahmen, mit dem »Godesberger Flügel« einen Rückfall ihrer nach links driftenden Partei hinter das Godesberger Programm verhindern. Darin hatte sich die SPD 1959 von der Rolle der Arbeiter- und Klassenpartei verabschiedet und als neue Volkspartei ein
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