Steinbrück - Die Biografie
erarbeiten, die dann vor der Klasse gehalten werden musste. Darin sollte der wesentliche Inhalt der Texte auftauchen und zugleich ein eigener Standpunkt erkennbar werden. In die Benotung der Vorträge floss ferner ein, ob der Redner über weite Passagen frei sprach oder ob er größtenteils vom Blatt ablas. Sogar auf Artikulation, Stimme und Körperhaltung wurde geachtet.
Steinbrück hat diesen Unterricht als optimale Vorbereitung für spätere Reden vor größerem Publikum empfunden. Seine Feuertaufe bestand er, als er am Ende der Schulzeit in der Aula vor zwei- bis dreihundert Zuhörern die Festansprache zur Abiturfeier hielt. Steinbrück weiß zwar nicht mehr genau, was er sagte, aber er erinnert sich daran, dass der Text den Erwartungen seiner Mitschüler entsprach – und das bedeutete, gegen den Stachel zu löcken und zumindest etwas Unruhe bei den Erwachsenen auszulösen.
Der Lehrer Winkler, der den Jungen das beibrachte, was man später »Debattenkultur« nennen sollte, war übrigens kein Weltverbesserer oder links gestrickter Lehrertyp, sondern eher ein Mann konservativen Zuschnitts. Er wollte die Schüler formen, sie im besten Sinne des Wortes bilden und ihnen nicht nur den Jahrgangsstoff einpauken. Dazu gehörte ebenfalls die Auswahl eher ungewöhnlicher Themen. So ging der Wirtschaftslehrer in der Oberstufe mit seinen Schülern Marxismus und Leninismus durch – nicht gerade ein konventionelles Unterrichtsthema für ein hanseatisches Gymnasium. Als Grundlage dienten die Werke von Iring Fetscher, den Steinbrück auch später in seinem Leben immer wieder gerne las. Fetscher, 1922 geboren, trat früh in die NSDAP ein, war Kriegsteilnehmer und rang nach dem Zusammenbruch 1945 sein Leben lang mit der Frage, warum es ihn anfangs so zu den Nazis gezogen hatte. Erst 1995 legte er unter dem Titel Neugier und Furcht – Versuch, mein Leben zu verstehen einen Lebensbericht vor. Berühmt wurde der Professor für Politikwissenschaft und Sozialphilosophie mit Arbeiten über Jean-Jacques Rousseau, Georg Friedrich Hegel und Karl Marx, ferner mit seinen Schriften über den Marxismus und seine fünfbändige Geschichte der politischen Ideen.
Neben diesen theoretischen Einführungen in die Welt der Politik unternahm Heinz Winkler mit seinen Schülern »politische« Klassenreisen. Man fuhr nicht zu den üblichen Zielen des deutschen Bildungsbürgertums, sondern besuchte das Europaparlament in Straßburg oder den Bundestag in Bonn. Das Anliegen des Lehrers bestand darin, Politik anschaulich, ja fassbar zu machen.
Die stärkste Faszination verspürt Steinbrück jedoch nicht im Politikunterricht, sondern wenn er dem jungen Willy Brandt zuhört. Der neue Vorsitzende der SPD trifft in den Sechzigern den Nerv vieler junger Leute und sorgt in den Siebzigern für eine regelrechte Beitrittswelle in die SPD. Auch zu Hause im Wohnzimmer der Familie Steinbrück wird intensiv über Willy Brandt und seine Politik geredet, ja gestritten. Vor allem die Art und Weise, wie Vertreter der CDU/CSU den aufstrebenden SPD-Politiker angehen, stößt Steinbrück sauer auf. Adenauer nennt seinen politischen Gegner gerne »Brandt alias Frahm«, womit er auf dessen uneheliche Geburt anspielt, was in dieser Zeit fast als unehrenhaft gilt. Und Franz Josef Strauß rückt Brandt wegen der Jahre im Untergrund und seiner Flucht ins Ausland während der Nazizeit sogar in die Nähe des Vaterlandsverrats.
Der junge Steinbrück ärgert sich über diese Art der subtilen Verunglimpfung. Ihm geht dieses »wohlanständige Bürgertum« gegen den Strich, das Brandt als »Exilanten« und als uneheliches Kind diffamiert. Die CDU, von Steinbrück als Altherrenpartei ohnehin kritisch beäugt, kommt ab diesem Zeitpunkt für ihn definitiv nicht mehr infrage. »Diejenigen, die von sich glaubten, sie würden in unserer Gesellschaft am ehesten den Ton angeben, waren diejenigen, die am bigottesten aufgetreten sind«, sollte er später einmal seine Ablehnung begründen (BR-Interview, 26.4.2011).
Auch Steinbrücks Mutter hält viel von Willy Brandt und räumt das in den Familiengesprächen offen ein, nicht immer zum Wohlgefallen ihres Ehemanns. Im Gegensatz zum konservativen Mainstream ihrer Kreise unterstützt sie die Strategie von Brandt, Schritt für Schritt auf die DDR und den Ostblock zuzugehen. Sie sieht darin keine vorschnelle Anerkennung, sondern die einzige Möglichkeit, endlich Bewegung in die Konfrontation der Blöcke zu bringen. Auch das Nachdenken über die
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