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Steinbrück - Die Biografie

Steinbrück - Die Biografie

Titel: Steinbrück - Die Biografie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Goffart
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Hauptstadt die Gedenkstätte für die Opfer des Warschauer Ghettos besuchte, kniete er plötzlich und völlig unerwartet vor dem Denkmal nieder. Er habe dieses Zeichen der Demut nie geplant, versicherte Brandt später, aber gespürt, dass nach der Niederlegung des Kranzes das übliche Neigen des Kopfes nicht mehr genügen würde: »Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.« Das Bild des knienden deutschen Kanzlers ging um die Welt.
    Ein Jahr später, am 10. Dezember 1971, erhielt Brandt für seine Ostpolitik in Oslo den Friedensnobelpreis. Nach Einschätzung vieler Zeithistoriker und Politologen brach damit endgültig die hohe Zeit der »Willy-Euphorie« in Deutschland an. Die SPD konnte nach ihrer Regierungsübernahme 1969, dem Jahr des Beitritts von Peer Steinbrück, allein 100 000 neue Mitglieder verbuchen. 1972 kamen sogar 150 000 Neuzugänge hinzu, 1976 überschritten die Sozialdemokraten die Millionengrenze. Gerne zeigte man sein politisches Bekenntnis nach außen. Populär waren Anstecker mit dem Slogan »Bürger für Brandt« oder »Willy wählen«. Vor allem bei der Jugend wehte der Zeitgeist kräftig aus der linken Richtung – Peer Steinbrück konnte sich also in guter oder zumindest in großer Gesellschaft fühlen.
    Aber es war nicht nur die Faszination für die charismatische Figur Brandt, die Steinbrück zu den Sozialdemokraten gezogen hatte. Für ihn ist die SPD bis heute die einzige politische Kraft, die für die diversen Katastrophen der deutschen Geschichte in den letzten 150 Jahren nicht verantwortlich war, wie er betont. Die Konservativen, die Kommunisten und selbst liberale Kräfte waren in die beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, das Dritte Reich und die DDR, verstrickt oder haben Kriege begonnen, findet Steinbrück. Diese sehr persönliche Sichtweise spielte für ihn eine erhebliche Rolle in einer Zeit, in der die Kinder ihre Eltern immer drängender nach ihrem Verhalten während der Nazizeit befragten. »Wie konnte das passieren, warum habt ihr nichts dagegen unternommen? Oder habt ihr am Ende sogar mitgemacht?« So oder so ähnlich wurde in den Sechzigerjahren gefragt. Vor allem die Vätergeneration stand im Verdacht der immer misstrauischer und bohrender nachfragenden Jugend: »Was habt ihr im Krieg getan, habt ihr auch mitgemacht bei der Verschleppung und Tötung von Juden, oder habt ihr euch in der Nazizeit sogar besonders engagiert?«
    Für Steinbrück gab es persönlich zwar keinerlei Anlass, innerhalb der eigenen Familie Nachforschungen über eventuelle Verstrickungen anzustellen. Doch was ihn als jungen Mann bedrückte, war die Tatsache, dass damals immer mehr Fälle von alten Nazis bekannt wurden, die im Nachkriegsdeutschland nahtlos weiter Karriere gemacht hatten. Es sei empörend gewesen, dass sogar richtige Verbrecher offenkundig völlig unbehelligt von der Justiz über Jahre hinweg das Leben eines anständigen Bürgers führen konnten, erinnert sich Steinbrück. Auch die schleppenden Ermittlungen einer noch von NS-Juristen durchsetzten Justiz regten ihn mächtig auf. Mit dem Prinzip des Wegschauens und Verschweigens wollte er nichts zu tun haben. Und deshalb war es für ihn als jungen Mann sehr wichtig, sich für eine Partei engagieren zu können, deren Führungskräfte und Anhänger in der NS-Diktatur keinen Platz an der Sonne eingenommen hatten, sondern im Gegenteil verfolgt worden waren. Die SPD habe in ihrer langen Geschichte als älteste deutsche Partei seit 1863 sicher viele Fehler begangen, räumt Steinbrück ein. »Aber man kann ihr keine Schuld aufladen für die Katastrophen der deutschen Geschichte.« (BR, 26.4.2011)

Kapitel 4
    Zwischen Dienen und Herrschen
    E s ist wieder einmal spät geworden in der großen Wohngemeinschaft in der Kieler Innenstadt. Bis tief in die Nacht hinein haben die Studenten in der Küche der geräumigen Altbauwohnung diskutiert und dabei wie üblich einiges an Bier und Wein verbraucht. Man streitet zwar häufig über ernste Themen und tritt gelegentlich auch als Weltverbesserer in Erscheinung, aber Kinder von Traurigkeit sind die WG-Genossen nicht. Im Gegenteil: Bei allem politischen Idealismus wollen sich die jungen Leute vor allen Dingen amüsieren und das freie Studentenleben an der Universität Kiel genießen.
    Peer Steinbrück, der hochgewachsene Student der Volkswirtschaftslehre, ist wie üblich Moderator, Ideengeber und Wortführer

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