Steinbrück - Die Biografie
wenige Wochen zuvor in Hamburg ist ein Polizist ums Leben gekommen. Deshalb ist die Stimmung bei der Aktion in der Kieler Studentenwohnung recht angespannt. Die Beamten sind nervös, die WG-Bewohner völlig überrumpelt. Steinbrück fängt sich nach kurzer Zeit wieder. »Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbefehl?«, fragt er den Leiter des Trupps. Doch der lässt sich nicht stören. Die Polizisten stellen in der Wohnung alles auf den Kopf, schauen in Schränke, Schubladen und Regale. Am Ende finden sie nichts – bis auf ein Morsealphabet, das dem Marineliebhaber Steinbrück gehört. Das Buch wird kurzerhand beschlagnahmt. Offenkundig dachte der Verfassungsschutz, wenigstens ein Beweismittel für illegalen Funkkontakt nach Moskau oder Ostberlin gefunden zu haben.
Als die Durchsuchung beendet ist und die Polizisten abziehen, vergisst einer der Beamten seine Aktentasche in der Wohnung. Den Studenten steckt der Schreck noch in den Gliedern, als sie die Tasche entdecken. Was fängt man jetzt damit an? Möglicherweise, meint einer, sei ein Abhörgerät darin versteckt. Steinbrück zuckt mit den Schultern. »Ich wäre für aufmachen«, erklärt er und hat die Tasche schon in der Hand. Die anderen stimmen nach kurzer Beratung zu. In der Mappe finden sie den richterlichen Durchsuchungsbefehl für ihre Wohnung sowie die ausführliche Begründung.
Nach der Lektüre wussten die Studenten, was Sache war. Die ganze WG stand im Verdacht, in ihren Räumen eine Terroristin der RAF versteckt zu halten. Auslöser dafür war offenbar eine Nachbarin, die sich schon öfters über Lärm seitens der Studenten beschwert hatte. Eines Tages ging die verärgerte Frau schließlich zur Polizei und gab dort zu Protokoll, dass eine häufige Besucherin der WG starke Ähnlichkeiten mit einer steckbrieflich gesuchten Terroristin aufweise. Weil zuvor eine Gruppe radikaler Vertreter des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) genau diese Wohnung angemietet hatte, war vom Verfassungsschutz nach Eingang der Meldung eine dreimonatige Observation angesetzt worden. Danach erfolgte die überfallartige Durchsuchung, obwohl sich der Verdacht auf Unterstützung einer terroristischen Organisation durch die verdeckte Beobachtung nicht hatte erhärten lassen.
Steinbrück und seine Mitbewohner beschwerten sich anschließend vergeblich bei der Polizei über die Durchsuchungsaktion. Sie wurden als Zeugen vernommen, erhielten jedoch nie eine befriedigende Antwort auf ihre Fragen. So verlief die merkwürdige Aktion des Verfassungsschutzes schließlich im Sand. Die WG-Bewohner setzten unterdessen ihr Studium fort und bereiteten sich nach und nach auf ihre Examen vor.
Auch Steinbrück kniete sich in den Stoff. Wenn er nicht gerade Wirtschaftswissenschaften büffelte oder politische Debatten führte, verdiente er sich etwas dazu. Wählerisch konnte er nicht sein in einer relativ kleinen Stadt wie Kiel, wo viele Studenten händeringend einen Nebenverdienst suchten. Mal arbeitete er auf dem Bau, mal bei einem Eheanbahnungsinstitut, half bei einer Lotto-Annahmestelle aus und jobbte als Parkwächter. Das lockere Leben eines Bummelstudenten führte er nie. Im Gegenteil: Mit jedem Semester spürte er, wie ihm die Zeit durch die Finger rann. Er wollte sein Examen in Volkswirtschaftslehre mit Nebenfach Soziologie möglichst zügig ablegen. Durch seine Schulwechsel und »Ehrenrunden« hatte er schließlich einiges an Zeit verloren, und das bedrückte ihn. Hinzu kamen die zwei Jahre als Offizier bei der Bundeswehr. Im Vergleich zu anderen fühlte Steinbrück sich fast schon alt. Er fürchtete Nachteile beim späteren Berufseinstieg und gab ordentlich Gas. Mit Erfolg: Nach acht Semestern stellte er seine Diplomarbeit über das Für und Wider von Kosten-Nutzen-Analysen bei Stadtentwicklungsprojekten fertig und schloss das Studium im Dezember 1974 als Diplom-Volkswirt ab – mit einer Prädikatsnote.
Es dauerte nicht lange und Steinbrück erhielt ein erstes Jobangebot. Der renommierte Kieler Ökonom Herbert Giersch schlug dem frisch diplomierten Studenten vor, beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel als wissenschaftlicher Mitarbeiter einzusteigen. Steinbrück, der gerne promovieren wollte und bereits eine Doktorarbeit begonnen hatte, überlegte sich das Angebot des Professors gründlich. Giersch galt als Kapazität, hielt im Audimax der Universität Vorlesungen über weltökonomische Fragen und war in der Politik glänzend vernetzt. Gerne flocht er in Vorlesungen
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