Steinbrück - Die Biografie
der Arbeiterschaft. In dieser »neu strukturierten Mitte der Gesellschaft«, wie der Politikforscher Franz Walter die soziologischen Veränderungen einmal genannt hat ( Die SPD – Biographie einer Partei ), konnte die vom Geruch des Klassenkampfs befreite SPD leichter an Einfluss gewinnen. Nicht zuletzt lösten sich auch die Facharbeiter und Meister von dem traditionellen Verständnis, Teil des Proletariats zu sein, und so zählte diese wichtige Gruppe fortan ebenfalls zur gesellschaftlichen Mitte.
Zudem veränderte sich die zunächst klare politische Orientierung der Angestellten in Richtung Union, als die Popularität des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard im Zuge des ersten Konjunktureinbruchs 1966 spürbar sank. Bei der darauffolgenden Bundestagswahl 1969 brach die Union in der Schicht der Angestellten erkennbar ein und verlor ihre traditionelle Vorherrschaft. Der bis heute andauernde Kampf um die wahlentscheidende Gunst dieser Gruppe war eröffnet, und seitdem steht die »neu strukturierte Mitte« im Zentrum beider großer Volksparteien. Willy Brandt und nach ihm Helmut Schmidt vermochten es 13 Jahre lang, die SPD an der Macht zu halten. Die Sozialdemokraten verloren schließlich, als es der von Heiner Geißler und Helmut Kohl reformierten CDU 1982 gelang, die Zustimmung der arbeitenden Mittelschicht mehrheitlich wieder auf die Union zu lenken.
Ende der Sechzigerjahre aber lag die SPD in der Gunst der Wähler gut im Rennen. Obwohl nur zweitstärkste Partei, stellten die Sozialdemokraten 1969 mit dem jungen Willy Brandt erstmals den Bundeskanzler. Diesem Sieg sollte dann bei der Bundestagswahl von 1972 mit 45,8 Prozent der Stimmen der bislang größte Triumph der SPD folgen. Sie hatte die CDU/CSU erstmals überflügelt – ein Erfolg, den sie nie mehr wiederholen konnte
Einer der Gründe für diese Siege war der durchschlagende Erfolg der sozialdemokratischen Leitfigur Willy Brandt bei den Erst- und Jungwählern. Diese Gruppe lief in Scharen zur SPD über. Es gab eine regelrechte »Willy-wählen«-Bewegung. Auch bei den Frauen, die bislang mehrheitlich konservativ und konfessionell orientiert waren, machte die SPD Boden gut und zog in den Siebzigerjahren mit den Unionsparteien gleich. Nicht zuletzt der starke Zuwachs der Sozialdemokratie bei den Bildungsschichten trug zum Erfolg bei. Wähler mit Abitur oder Hochschulstudium waren bis dahin eine feste Klientel der bürgerlichen Parteien CDU, CSU und FDP gewesen. Doch das hatte sich jetzt geändert: Die SPD war nicht länger allein die Partei der Volksschüler.
Je stärker die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen in die Hochschulen und Hörsäle eindrang, desto mehr strahlten diese Debatten auf das akademische Bürgertum aus und erfassten wichtige Multiplikatoren wie Lehrer und Journalisten. Während die Union sich durch ihre pauschale, ablehnende Haltung gegenüber der aufbegehrenden Jugend immer stärker in die politische Defensive zurückzog, verstand es Brandt, durch seine differenzierten Positionierungen bei den jungen Leuten zu punkten. Damit schaffte er es, die SPD zunehmend für den akademischen Nachwuchs zu öffnen.
Willy Brandt wirkte wie ein Aufputschmittel – er verlieh seiner Partei Flügel. Nach der Analyse von Franz Walter stand die SPD in diesen Jahren offenkundig mit den Kräften der Zukunft im Bund – der Jugend, den neuen Mittelschichten und den jungen Frauen. Währenddessen schien sich die Union mit der sozialen Nachhut aus Bauern, Rentnern und Katholiken abzuplagen und der sozialdemokratischen Avantgarde hoffnungslos hinterherzuhinken. Allerdings darf man trotz der enormen Verschiebungen in der Wählergunst nicht übersehen, dass CDU und CSU mit Ausnahme von 1972 immer die stärkste politische Kraft blieben. Und die Wende von 1969 war nur deshalb möglich geworden, weil es den Genossen gelang, die FDP unter Walter Scheel zu einer sozialliberalen Koalition zu überreden.
In der Folge entwickelte sich bei den neuen Mittelschichten und großen Teilen der jungen Bevölkerung ein regelrechter Enthusiasmus für die SPD und Willy Brandt. Das blieb nicht ohne Wirkung auf Künstler und Kulturszene. Erstmals bekannten sich berühmte Schriftsteller wie Günter Grass oder der Publizist Günter Gaus offen zu Brandt. Es folgten Historiker wie Eberhard Jäckel oder Politikwissenschaftler wie Arnulf Baring und Kurt Sontheimer, die sich einer sozialdemokratischen Wählerinitiative anschlossen. Bald galt es in den Kulturkreisen als
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