Steinbrück - Die Biografie
ungestüme Wachstum in China erlebt hatte, diese Erneuerungswut, war er es leid, in Nordrhein-Westfalen nur eine Echternacher Springprozession anzuführen. Zwei Schritte vor, einen zurück. Jedes Projekt hier, jeder kleinste Zwischenschritt musste mühsam errungen, erschlichen, erbettelt werden. Nicht nur bei den Grünen, sondern auch bei den Bezirkssekretären der allgegenwärtigen Gewerkschaften, den Umweltverbänden und Bürgerinitiativen, den Ortsverbänden der SPD, den Kreistagen und Bürgermeistern sowie der ganzen Pressemeute. Die Medienvertreter gingen ihm nicht zuletzt deshalb zunehmend auf die Nerven, weil sie ihn wegen seiner norddeutschen Herkunft zu einer Art Außerirdischem stempelten, zu einem ET im Kohlenpott.
Bei der SPD kann Steinbrück nicht viel verändern, aber mit den Grünen ist er durch. Fast zwölf Jahre lang hat er in rot-grünen Bündnissen mit in der Regierungsverantwortung gesessen, jetzt reicht es ihm. Steinbrück will sich von dem kleinen Partner, den er inzwischen nur noch als Fortschrittsfeind empfindet, politisch lösen. »Alles was sich wie Mehl über die Landschaft legt, was nach Bremsklötzen riecht, kann sich diese Koalition nicht leisten«, warnt er die Grünen. Der Blick des Ministerpräsidenten schweift wieder einmal hinüber zur FDP, die mit fast zehn Prozent der Stimmen aus der letzten Wahl hervorgegangen ist und in seinen Augen eine gute Alternative wäre. Im Sommer 2003, ein knappes halbes Jahr nach dem Besuch in Schanghai, sind die Zeitungen voll davon, dass Steinbrück ganz offenkundig einen Bruch der rot-grünen Koalition in NRW provozieren wolle. Angesichts der Probleme des Landes mit mehr als einer Million Arbeitslosen dürfe es »jetzt keine selbsttherapeutischen quälenden Prozesse mehr geben«, propagiert der Ministerpräsident und verordnet dem Regierungsbündnis in Düsseldorf einen mehrwöchigen »ergebnisoffenen Klärungsprozess« ( taz , 13.6.2003). Nordrhein-Westfalen brauche dringend »einen Politikwechsel, damit niemand einen Regierungswechsel will«, orakelt er mit drohendem Unterton.
Die Botschaft wird verstanden, führt aber nicht zu dem von Steinbrück erhofften Effekt. Im Gegenteil beginnt in der SPD eine erschrockene Debatte über die Frage, ob man an den Grünen festhalten oder Steinbrück folgen und zu den Liberalen wechseln solle. Die FDP ist zwar seit 2002, nach dem Wechsel von Jürgen Möllemann zu Andreas Pinkwart, wieder von ihrem populistischen Kurs abgewichen, doch den meisten Genossen an Rhein und Ruhr liegt die Partei mit ihrem liberalen, wirtschaftsfreundlichen Weltbild deutlich weniger als die Grünen, deren Landesverband in NRW mehrheitlich dem linken Flügel und nicht den Realos zuneigt.
Steinbrück hingegen ist die FDP zu dieser Zeit deutlich lieber. Er spricht mit seinem Bruder Birger darüber, der in Köln wohnt und lange Mitglied der FDP war. Der Jurist ist ein klassischer Sozialliberaler, beeindruckt von den Freiburger Thesen und dem ehemaligen FDP-Generalsekretär Karl Hermann Flach, dem großen Reformer der liberalen Bewegung in Deutschland. Birger Steinbrück sind bürgerliche Freiheiten wichtiger als die später im Neoliberalismus stark betonten wirtschaftlichen Freiheiten. Die zwischenzeitliche Reduzierung der FDP auf ein rein ökonomisches Profil hat ihn enttäuscht.
Beide Steinbrück-Brüder sind politisch durch die Ablehnung althergebrachter Autoritäten sozialisiert worden. Der Aufbruch zu mehr Offenheit und das Herauslösen aus dem Muff der Adenauer-Ära haben bei ihnen wie bei vielen ihrer Generation zu einer freiheitlichen Grundhaltung geführt, die immer wieder durchscheint. Für Birger führte das konsequent zur FDP, für seinen Bruder Peer wegen Willy Brandt und seiner im Kern libertären Mission »Mehr Demokratie wagen« zur SPD. Er ist nicht aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit in die SPD eingetreten, und sein politisches Engagement war nie von dem Ziel geprägt, als Anwalt der Schwachen aufzutreten. Der Altruismus vieler Sozialdemokraten ist ihm immer fremd geblieben. »Er ist ein Teil der Freiheits-SPD«, sagt Volker Hauff, einer der politischen Ziehväter, heute über seinen ehemaligen Mitarbeiter. Schon als Referent habe er stets offen seine Meinung geäußert und nie mit Kritik gespart, auch nicht gegenüber ihm, dem Minister. Steinbrück habe Bestehendes stets infrage gestellt, erinnert sich Hauff. Er habe etwas verändern, voranbringen wollen. Das unterscheidet ihn im Kern von den Grünen, die als
Weitere Kostenlose Bücher