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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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hatte Mach sich
gesagt: "Ich werde berühmt. Klar, auch berühmte Leute kann man töten. Aber
das ist dann doch etwas ganz anderes."
    In der Folge hatte Mach - mit Unterstützung Kingsleys, ob
man das nun glauben mag oder nicht - Kontakt zu einigen Aktivisten aufgenommen,
jungen Leuten, die für ein solches Abenteuer bereit waren und welche die Kraft
und Geschicklichkeit besaßen, ein Seil zwischen Bahnhofsturm und Planetarium zu
spannen. Denn Mach hatte sich entschlossen, auch in diesem Punkt Petits
Verfahren zu übernehmen. Dessen Leute hatten seinerzeit mit Pfeil und Bogen
eine Leine aus Nylon vom nördlichen Turm des World Trade Centers zum Südturm
geschossen und daran anschließend eine "Kette" von stärker werdenden
Schnüren über den Abgrund gezogen, zuletzt das Stahlseil, auf dem Petit
balancieren würde. Gut, das war eine Strecke von sechzig Metern gewesen,
während die zwischen Bahnhofsturm und Planetarium um einiges länger ausfiel.
Unmöglich also, dies mit der Kraft eines Bogens zu bewerkstelligen - durchaus
aber möglich mit einem Pfeilgewehr. Man überlegte, von der Spitze des
Planetariums aus eine spezielle Pfeilmunition, an der eine Nylonschnur
befestigt war, zielgenau in ein auf der Aussichtsplattform aufgestelltes
Holzbrett zu befördern; war solcherart eine Verbindungslinie hergestellt,
könnte man in petitscher Manier die stärker werdenden Seile nach oben ziehen
und zuletzt ein straff gespanntes Drahtseil befestigen.
    "Sie, mein lieber Hans Tobik", hatte Mach ganz
unverfroren gesagt, "Sie sind in diesem Spiel der Scharfschütze. Warum
sonst hätte Gott uns zusammengeführt?"
    Das war nun eine Sichtweise, die der ungläubige Hans gar
nicht vertrat. Dennoch gefiel sie ihm. Es hatte einen bestechenden Charme, daß
er, der die Kunst des Schießens erlernt hatte, ja die Kunst, jemanden auf
große Entfernung eine Kugel in den Kopf zu jagen, daß er nun vor der Wahl
stand, statt dessen eine Schnur auf den Weg zu bringen, um einen dramatischen
Drahtseilakt zu ermöglichen. Obgleich im Grunde ja beides möglich war: Mord und Drahtseilakt.
Doch Tobik begriff, daß dieses "und" allein theoretischer Natur war,
daß in der Realität - aus moralischen wie aus praktischen Gründen - nur das
eine oder das andere geschehen konnte.
    Seine Entscheidung traf er endgültig an dem Tag, an dem er
das Gesicht Kommissar Rosenblüts in der Menge erkannte und somit ahnte, daß man
ihm auf der Spur war. Die Entscheidung also, nicht zu töten,
kein Attentat zu begehen, es dabei zu belassen, den Kopf eines Mannes lediglich
auf einer Fotografie durchlöchert zu haben. Und statt dessen für die Mach-Sache
zu arbeiten.
    Das Moralische seiner Wahl bestand im übrigen nicht darin, das
Verwerfliche eines politischen Mords erkannt zu haben. Er war weiterhin der
Ansicht, daß einige Leute in dieser Bahnhofsgeschichte den Tod oder wenigstens
die Strafe verdienten, in Angst zu leben. Denn hier agierten Leute, deren ganze
politische Philosophie darin bestand, immer noch besser zu lügen, auch wenn es
so aussah, daß sie diesem einzigen Aspekt ihrer Philosophie immer schlechter
nachkamen, entsprechend der Erkenntnis, die großen Lügner seien ausgestorben.
- Egal. Der Stuttgartforscher Tobik erkannte, daß die Schönheit von Machs
Vorhaben, nämlich über den Park zu tanzen, viel schwerer wog als der Akt der
Strafe, den er selbst hatte vornehmen wollen. Denn wie manchmal gesagt wird,
jemand entscheide sich für das Leben, so hatte Hans Tobik sich dafür
entschieden, nicht für das eigene Leben, und schon gar nicht für Ratcliffes,
sondern für das Leben an sich, welches in dem kommenden Drahtseilakt einen so
ernsten wie vergnüglichen Ausdruck erhalten sollte. Das war es,
was in diesem Moment moralisch zählte.
    Und darum geschah es, daß nur wenige Tage, nachdem er
seine Wohnung für immer verlassen hatte - und damit auch sein neben der Stadtforschung
leidenschaftlichstes Hobby, das Experimentieren mit unsichtbaren Räumen -,
Tobik zusammen mit einer Gruppe von Aktivisten das "Sternentheater"
des Carl-Zeiss-Planetariums erklomm. Mittels Leiter gelangte man von der
Rückseite des Keplersaals auf die mit Steinen ausgelegte erste Ebene und von
dort über enge Stufen auf die Spitze der Pyramide. Im Park war es zu dieser
Zeit bereits vollkommen ruhig: wenige Passanten, ein fernes Stadtrauschen,
Polizeiwagen hin und wieder - wobei der Blick der Beamten freilich immer wieder
zu den Bäumen wanderte, da man die Errichtung eines weiteren

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