Steinfest, Heinrich
Frau einzustecken und sodann den Koffer mit dem
AWC-Gewehr aus dem Schrank zu holen. Auch hatte er sich die Zeit genommen, um
nachzusehen, ob der Herd ausgeschaltet war, ja, er hatte sogar den Haupthahn
der Wasserleitung abgedreht, so, als gehe er auf Urlaub, wobei er doch genau
gewußt hatte, daß er nie wieder in diese Räume zurückkehren würde.
Die Wohnungstüre hatte er nicht abgeschlossen, um der
Polizei später zu ersparen, die Türe aufbrechen zu müssen und damit einen
unnötigen Schaden und unnötige Kosten zu verursachen. Ganz zum Schluß hatte er
Wolf Mach angerufen und ihm erklärt: "Ich bin dabei."
Um Tobiks Anruf zu verstehen, ein Blick zurück. - Tobik
hatte ja beide bei einem Training der Parkschützer kennengelernt, ihn (Wolf)
und seine Begleiterin (Alicia), diese unnahbare Person, deren Seele wahrscheinlich
aus Teflon bestand. Tobik war bald klar geworden, daß Mach sich gleich ihm in
einer ganz speziellen Situation befand. Nicht, weil er Österreicher war,
Österreicher in Kassel (was so klingt wie: Erdbeeren im Winter, oder: Blinde
besuchen eine Van-Gogh-Ausstellung), nicht, weil Alicia eher eine Bewacherin zu
sein schien. Nein, Tobik hatte begriffen, wie sehr auch Wolf mit dieser
Bahnhofsgeschichte in einer unüblichen Weise verbunden war und wie sehr auch
er bereit war, etwas zu tun, was über das Naheliegende und Gewohnte hinausging.
Ein Hinausgehen, das eine höchstpersönliche Note besaß.
Er erfuhr, daß Wolf als Archäologe in Stuttgart war, ja
daß er eigentlich im Auftrag der Stadt tätig sei, sich aber wie Tobik der
Protestbewegung angeschlossen habe, aus einem sehr guten Grund, den er aber
nicht nennen wollte, noch nicht. Es sei zu früh, darüber zu reden, weil die
Möglichkeit bestehe, daß niemand ihm glaube. Ganz sicher würden die Zuständigen
versuchen, ihn für verrückt zu erklären. Als einen verwirrten Mann darzustellen,
der den Protest dazu nutze, seine Spinnereien in die Welt zu tragen. In jedem
Fall, so Mach, sei es extrem wichtig, die Zerstörung des Schloßgartens zu
verhindern, eine Zerstörung, die möglicherweise noch ganz andere Zerstörungen
nach sich ziehen würde. Und um zu beschreiben, was drohe, hatte er einen ebenso
rätselhaften wie gleichzeitig völlig klaren juristischen Fachausdruck
lateinischer Herkunft gebraucht: "Societas leonina", was wörtlich "Gesellschaft
mit dem Löwen" bedeute und einen Gesellschaftsvertrag bezeichne, durch
den jemand derart benachteiligt wird, daß er nicht am Gewinn, sondern einzig an
den Kosten und am Verlust beteiligt ist - und, wie er ergänzte, an der
Katastrophe. Mach hatte argumentiert, daß genau das hier geschehen sollte, daß
genau das die Menschen spürten. Darum gingen sie ja auf die Straße: um sich der
Gesellschaft des Löwen zu entziehen, um nicht am Schluß allein mit dem Verlust
und der Katastrophe dazustehen.
Es war gar nicht so sehr die grundsätzliche Aussage Machs
gewesen, die Tobik interessiert hatte, sondern eben die Wortwahl, man könnte
auch sagen, die Bildwahl. Die Verwendung des Löwenbildes hatte ihn dazu
animiert, sich weiterhin mit Mach zu treffen, sich ihm anzuvertrauen, so, wie
dann Mach seinerseits sich Tobik anvertraute. Jeder hatte sein Geheimnis
preisgegeben, wobei es dem Stadtforscher Tobik um einiges schwerer gefallen
war, Mach ernst zu nehmen und sich eine schlafende Kriegerin und schwangere
Robotermadonna vorzustellen, als es für Mach gewesen war, sich in die Psyche
Tobiks zu versetzen, dessen Wut und Zorn zu verstehen, dessen Ohnmacht, die
sich in die Macht verkehrt hatte, ein Scharfschützengewehr in die Geschichte
einzuführen. Auch wenn man eine solche Waffe natürlich als Ausdruck der
Ohnmacht begreifen konnte, was Mach aber nicht tat. Er zeigte sich weder empört
noch skeptisch, sondern begriff Tobik voll und ganz. Allerdings versuchte er
nun, Tobik in die eigene Planung einzugliedern. Denn um sein Vorhaben
umzusetzen, benötigte er jemanden, der perfekt zu zielen verstand.
Inspiriert von Philippe Petits New Yorker Drahtseilakt
hatte sich Mach nämlich überlegt, eine ebensolche "poetische Aktion"
über den Wipfeln der bedrohten Parkbäume vorzunehmen, um auf diese Weise in den
Fokus einer öffentlichen Aufmerksamkeit zu geraten. Die Idee hatte spätestens
dann Gestalt angenommen, als Palatin unmißverständlich damit gedroht hatte,
ihn verschwinden zu lassen, sollte er je auch nur daran denken, Informationen
über den Schloßgarten-Mechanismus nach außen zu tragen. Und so
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