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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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beruhigen, der Presse Zeit zu geben, ihre
Meldungen zu verfassen, und der Polizei Zeit zu geben, sich auszudenken, wie
sie ihn da wieder herunterbekam, ohne seinen Absturz zu riskieren. Denn es war
ja klar, dieser Mann würde niemals von alleine abstürzen. Alle konnten sehen,
wie souverän er war. Niemand würde nachher sagen können: "Selbst schuld,
wenn du da hochkletterst und dann ein Wind kommt und du nach unten fällst und
platt bist." Das spürte die Polizei: daß Wolf Mach ihr nicht den Gefallen
tun würde, sich im Zuge einer Ungeschicklichkeit selbst auszuschalten.
     
    Es klopfte. Palatin hätte sich gerne totgestellt. Aber das
ging nicht, er gehörte nun mal nicht zu den Lebewesen, denen das Totstellen
auch abgenommen wird. Wenn einer wie er sich totstellte, landete er unweigerlich
im Magen des Feindes.
    Palatin zog sich ein Oberteil über, ging zur Türe und
öffnete sie. Draußen stand eine junge Hotelangestellte, eine Frau mit Schürze.
Sie sagte: "Mir geht es ausgezeichnet, danke, bitte!"
    "Mir nicht", antwortete Palatin. Dann fragte er:
"Sonst noch was?"
    "Das hier soll ich Ihnen geben."
    Sie hielt Palatin ein kleines Büchlein entgegen.
    "Ist das eine Bombe?" erkundigte er sich.
    Mein Gott, die Frau war Botin, eher Botin der unteren Kategorie,
sicher niemand, der imstande gewesen wäre, die zu überbringenden Nachrichten
und Gegenstände in Bomben und Nichtbomben zu unterteilen. Vielmehr gehörte
diese Frau zu jener Gruppe, zu der auch Aydin und sein Cousin Lynch zählten,
Leute, die einzig und allein als Zuträger fungierten. Mal Blumen, mal Bomben
und selten etwas, das auf den ersten Blick das war, wonach es aussah.
    Die junge Frau mit rumänischen Augen und einem
Strahlenkranz blonder Haare legte das Buch in Palatins Hände, drehte sich um und
wechselte in das gegenüberliegende Zimmer, wo sie mit einer Kollegin am
Reinigen war.
    Palatin kehrte zu seinem Bett zurück und setzte sich an
den Rand. Er betrachtete das Buch in seinen Händen, den abgegriffenen, an den
Kanten zerfransten violettgrauen Einband, der ein wenig verseucht anmutete,
eine Taube von Buch, ein Krankheitsüberträger: Robert Burtons Anatomie
der Melancholie.
    Palatin schlug die erste Seite auf. Unter dem Bildnis des
überlegen schmunzelnden Robert Burton war in einer kleinen, äußerst peniblen
Handschrift eine Widmung aufgeschrieben worden:
     
    Ubi
peccatum, ibi procella.
    Wer
sündigt, entfesselt einen Sturm
    So,
lieber Palatin,
    was
werden sie jetzt tun?
    Mich
vom Seil spucken?
     
    "Fick dich ins Knie!" schrie Palatin und warf
das Buch in die Ecke. Aus eben dieser Ecke hallte es zurück, als spreche der
Geist des Buches: "Nimm dein eigenes Knie."
     
    Pfeil ohne Bogen
     
    Wie bei einem Bühnenbild für ein Märchen standen die
hohen, spitzen Hügel so versetzt, daß man mehrere kartonartige Reihen erkennen
konnte. Oder besser erahnen, da kaum noch Licht in ihnen steckte, jetzt nach
Sonnenuntergang. Allein am Dach des Hauses, auf dessen Terrasse Hans Tobik saß,
ein Glas vor sich auf dem Tisch, eine Zigarette in der Hand, brannte ein
letztes Rot, ein Stück geschlachteter Sonne, das noch ein wenig ausblutete,
bevor es dann völlig erkalten würde.
    Aus dem Wald, der hier von jeder Seite drohte und lockte,
drang eine Feuchtigkeit, die in alles hineinkroch, was kein Taucheranzug war.
Die anderen Gäste hatten es darum vorgezogen, sich in die Gaststube zu
begeben. Sie sprachen eine Sprache, die Tobik nicht verstand. Das war der
Aspekt, der ihn am meisten störte: daß er zukünftig, ganz gleich, wo sein Weg
ihn hinführen würde, nicht mehr in der gewohnten Weise würde sprechen können.
Andererseits hatte er nicht vor, den Rest seines Lebens mehr als nötig den Mund
aufzumachen. Denn bei aller Liebe zum heimatlichen Idiom fand er das Reden
sowieso anstrengend und unbefriedigend. So oft in seinem Leben hatte er das
Gefühl gehabt, nicht nur nicht gesagt zu haben, was er eigentlich meinte,
sondern daß ihm für dieses Gemeinte auch gar nicht das Vokabular zur Verfügung
gestanden hatte, ja daß ein solches Vokabular gar nicht existierte. Und daß er
eigentlich zu jedem gesprochenen Wort, wenigstens zu jedem gesprochenen Satz,
eine Erklärung hätte abgeben müssen, wie dieser Satz genau gemeint sei
beziehungsweise nicht gemeint sei. Was aber zu neuen Mißverständnissen hätte
führen müssen. Wenn jemand etwa das Wort Liebe erklärte, wurde er in den
seltensten Fällen verständlicher und präziser. In jeder Erklärung

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