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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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zuvor der so freundliche, gutherzige Mensch. Solche betrunkenen
Individuen sprengen die gute Laune der anderen genau so, wie die wachsenden
Salzkristalle das Gestein sprengen.
    Machs Denken in diesen Tagen war zuletzt wohl auch davon
geprägt, daß er immer weniger schlief und immer noch weniger zu sich nahm. Er
verdorrte. Folgerichtig war ihm oft schwindlig, mitunter verschwammen die
Dinge vor seinem Auge, andererseits muß gesagt werden, daß die Nahrung, so wie
wir sie heute kennen und sie zu uns nehmen, die meisten von uns sowieso ein
bißchen meschugge macht. Und in der Tat meinte der so gut wie nahrungslose Mach
trotz des Schwindels und der Verschwommenheit des Blicks eine große Klarheit in
sich zu tragen. Ja daß gerade das Verschwommene einen Ausdruck dieser Klarheit
darstellte, indem manche Dinge ihm in genau der Undeutlichkeit erschienen, die
diesen Dingen innewohnte, ihrem Wesen entsprach, und daß es auf einer
Einbildung oder Fälschung beruht hatte, wenn sie ihm früher klar vorgekommen
waren. Vergleichbar der glasklaren Vorstellung von einer runden Welt, wenn man
nur lange genug gefälschte Fotos von runden Welten betrachtet hatte.
     
    Apropos Täuschungen. Nicht zuletzt, weil Brunnen eine
gewisse Rolle in dieser Geschichte spielen, sollte erwähnt werden, daß jener berühmteste
Vertreter des höfischen Absolutismus, Ludwig XIV. - der das Großprojekt
Versailles keineswegs allein der prachtvollen Architektur wegen erbauen ließ,
sondern vielmehr, um den widerspenstigen Hochadel an ein grotesk aufwendiges
Hofleben zu binden, festzubinden -, daß dieser sogenannte Sonnenkönig einst
den Befehl gegeben hatte, sämtliche Wasserspiele seiner Schloßanlage, nämlich
an die eintausendvierhundert Fontänen, stets zur gleichen Zeit in Betrieb zu
halten. Was dann im Zuge von Wasserknappheit unmöglich geworden war. Da nun
aber selbst der überirdischste König glücklicherweise nicht in der Lage ist,
in ein und demselben Moment an einem jeden seiner Brunnen zu stehen, ging man
dazu über, das Wasser nur dort laufen zu lassen, wo seine Majestät sich gerade
aufhielt. Es heißt, Ludwig hätte niemals den eigenverschuldeten Schwindel
durchschaut.
    Zweihundertfünfundneunzig Jahre nach dem Tod dieses
Regenten durften die Repräsentanten von Stuttgart 21 - Leute wie der Projektsprecher
Ratcliffe oder der in seinem Zorn gegen die Welt, gegen alles Belebte und
Unbelebte gefangene, ohne Liebe und ohne Psychotherapeuten dastehende
Oberbürgermeister -, durften diese Leute also einmal mehr die Stuttgarter
Zeitungen aufschlagen und zufrieden zur Kenntnis nehmen, daß es sich ja bloß um
ein paar hundert Demonstranten handeln würde, die schon wieder für den alten
Steinhaufen und für die verdammten Im-Weg-Steher-Bäume, im Grunde sogar für die
Unversehrtheit des hinterfotzigen Anhydrits auf die Straße gegangen seien.
Eine Straße, die man übrigens ohnehin ganz gerne durch eine neue ersetzt hätte,
die Straße ebenso wie diese Leute auf der Straße. Denn so schien ihre perfekte
S-21-Vision ja auszusehen: alles und jeden durch eine Computeranimation zu
ersetzen. Vögel, Kinder, Hunde. Nichts Echtes sollte bleiben. Der Himmel über
Stuttgart - ein Werbevideo unter dem Motto "Wolken waren gestern, heut
regiert das Blau".
    Keinesfalls zufällig waren die S-21-Befürworter von einer
offenkundig willfährigen Journaille und einer offenkundig sehbehinderten
Polizei über einen langen Zeitraum mit der Illusion versorgt worden, es handle
sich bei den Demonstranten um eine kleine Schar aufsässiger Pensionisten, die
halt nicht bereit wäre, sich in eine Computeranimation eingliedern zu lassen.
Dumm nur, daß die solcherart von den medialen Berichten beruhigten
Projektbetreiber nicht ein Mal aus
dem Fenster sahen, wo sie dann hätten erkennen müssen, wie viele sich hinter
der Angabe "einige Hundert" oder "ein paar Hundert" verbargen.
Aber aus dem Fenster zu sehen, zählte für diese stark beschäftigten Damen und
Herren ohnedies zu den unnötigen Dingen. Allerdings waren sie irgendwann
gezwungen, auch die Zeitungen nicht mehr aufzuschlagen, da es selbigen langsam
unmöglich wurde, die Wahrheit zu verschleiern und ihre Fotoapparate immer dort
aufzustellen, wo gerade niemand stand. Es stand ja überall jemand, das war das
Problem.
    Mag sein, daß einige aus den S-21-Reihen sich gerne mit
Ludwig XIV. verglichen und ziemlich lange mit einer ähnlichen "Souveränität"
ihren Hof eingerichtet hatten, mag sein, daß nicht wenige von

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