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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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holte sich einen Stuhl. Er war völlig alleine mit den
beiden Maschinen, der Zahnradapparatur und dem Tomographen. Die städtischen
Mitarbeiter pflegten erst vormittags zu erscheinen. Mach setzte sich so hin,
daß er wie bei einem Verhör oder einem Schachspiel dem Schloßgarten-Mechanismus
gegenübersaß. Es war zum ersten Mal, daß er mit solcher Ruhe und Konzentration
dem Korpus leibhaftig begegnete. Auch zum ersten Mal mit der absoluten
Überzeugung, nur dann in dieser Geschichte weiterzukommen, wenn er den eigenen
Blick befreite, also nicht versuchte, das Offenkundige einer technischen
Konstruktion zu erkennen und dieses Offenkundige in immer kleinere Teile zu
spalten. Nein, dieser befreite Blick - der gleiche, der es einem ermöglichte,
in einem scheinbar fröhlichen Gesicht die Melancholie eines Menschen
wahrzunehmen -, dieser Blick war bemüht, das Augenscheinliche als einen Schein
zu verstehen, eine reine Einbildung des Gewohnten.
    Wenn nun zuvor gesagt worden war, Wolf Mach würde in der
Art des Dorian Gray trotz der anstrengenden Wochen einen frischen und markanten
und lebendigen Eindruck machen, während sein Gesicht auf Spiegeln oder
Badezimmerfliesen nur mehr schwer zu erkennen wäre, so hatte dies bereits als
Hinweis darauf gelten können, wie sehr Spiegel und Spiegelungen für die
Ereignisse von Bedeutung waren. Eben nicht im Sinn einer bloßen Reflexion des
Sichtbaren, sondern vielmehr einer Verdeutlichung von etwas bislang
Unsichtbarem oder nicht Erkanntem. Im Spiegel brach das Übersehene hervor.
    Nachdem Mach also eine Stunde auf sein bronzenes Gegenüber
gestarrt hatte, wandte er sich auf seinem Drehstuhl um und griff nach einem
auf einem Tischchen plazierten Wasserglas. Als er dieses hochhob, um es an
seinen Mund zu führen, blieb sein Blick an der gebauchten Spiegelung hängen.
Genauer: Er registrierte, daß eine solche Spiegelung in bezug auf das eigene
Gesicht kaum mehr vorlag. Da war lediglich ein verwaschenes Schema, ein Nebel -
mehr eine Amöbe als ein Gesicht. Um so deutlicher fiel hingegen jenes Abbild
aus, das den tiefer im Raum stehenden Schloßgarten-Mechanismus wiedergab. So
klein, wie das halt auf einem kleinen Glas der Fall ist. Dennoch stockte Mach
der Atem. Sein Herz fiel gegen die Brust, seine Fingerkuppen brannten. Er
meinte etwas zu sehen, was er vorher nicht gesehen hatte, etwas ... nun, er
konnte es kaum benennen, trotzdem war er überzeugt, daß das Spiegelbild ein
Objekt zeigte, das anders aussah als der originale Gegenstand, nicht einfach
verzerrt, sondern wirklich anders, etwas anderes darstellend. Mach blickte hin
und her. Doch es blieb dabei, Objekt und Spiegelbild unterschieden sich.
Spielte ihm seine Müdigkeit, die vielleicht ihre Wirkung tat, auch wenn er sie
nicht spürte, einen Streich?
    Mach stellte das Glas ab. Er benötigte einen richtigen
Spiegel. Weil er aber keinen fand - man war hier nicht im Hotel und auch nicht
im Zimmer einer Dame -, schaffte er einen der dunklen Mac-Monitore herbei und
positionierte ihn so, daß dieser wie ein Garderobenspiegel im Raum stand. Zudem
richtete Mach die Scheinwerfer in idealer Weise ein. Dann nahm er wieder Platz,
sah auf die gläserne Bildschirmfläche, ignorierte die eigene Verwaschenheit
und betrachtete den so überaus deutlich in der Reflexion sich abzeichnenden
Körper des Schloßgarten-Mechanismus. Genau, Körper war
eindeutig der zutreffende Begriff. Nicht etwa, weil sich in der Reflexion die
kastenartige Geschlossenheit verlor und ein Roboter mit ausgebreiteten Händen
und Armen sichtbar geworden wäre, nicht, weil die Skalen und Scheiben sich
zugunsten von etwas anderem aufgelöst hätten. Keine Verwandlung, keine
Transformation geschah. Doch vor allem, wenn man den Korpus aus den
verschiedenen Positionen betrachtete, von der Seite her, von oben, und in der
Tat wanderte Mach jetzt mit dem hochgehobenen Bildschirm um das Objekt herum,
dann also zeigte sich eine Figur, eine Gestalt, die weniger in diesem Kasten
steckte, als daß sie mittels ihrer geduckten, eng anliegenden Haltung den
Kasten bildete. Ja, hier hatte sich eine Person zu einem quadratischen Prisma
zusammengezogen. Auf dem gespiegelten Abbild zeigten sich die stramm an den
Rumpf gezogenen Arme und Beine, zeigte sich der zwischen Knie geklemmte
Schädel, zudem ein in der Mitte rechtwinklig eingeklapptes lanzenartiges
Gebilde, das die rechte vordere und die rechte obere Kante bildete, während auf
der Hinterseite eine knorpelige Struktur ein Rückgrat

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