Steinfest, Heinrich
soll ich das verstehen?"
Statt präzise zu werden, sagte Palatin: "Legen Sie
sich ins Zeug. Machen Sie Ihren Job."
Solcherart war ein Szenarium der Bedrohung entstanden.
Wäre Mach nicht bald erfolgreich, würde er seinen Auftrag verlieren. Vielleicht
sogar sein Leben, zumindest, wenn er Palatin wörtlich nahm.
Darum seine Verzweiflung, seine Angst, aber nicht um sein
Leben, sondern darum, die Maschine zu verlieren.
Mach erhob sich. Seine Glieder schmerzten, seine Augen
brannten. Er ging in die Küche, um sich kalten Kaffee einzuschenken. Er trank
ihn fast nur noch kalt. Kalter Kaffee kam ihm wie feste Nahrung vor. Nette Vorstellung!
Er griff sich auf den Bauch. Sein Bauch war ein Loch, ein Fach. Ja, ein
Schlüsselfach wie in diesen alten Hotels, aber ohne Schlüssel darin. Was doch
nur bedeuten konnte, daß jemand schon im Zimmer war.
Mach bog seine Hand um die Tasse und kehrte zurück. Er
schaltete die Deckenleuchte ein und bewegte sich hinüber zu den Büchern. Dort
betrachtete er die langen Reihen, stellte seinen Kopf quer, um die Titel lesen
zu können. Er suchte ein Buch. Ein Buch, das ihm helfen würde. Nicht, daß er
wußte, welches. Er folgte nur einem Gefühl. Denn Mach war ein gläubiger Mensch,
einer, der an göttliche Fügungen glaubte, an ein Schicksal, das sich dadurch
erfüllte, daß sich der Mensch auf selbige Fügungen einließ, sprich, sich in
eine nun mal gegebene Form paßte. Mach sah keinen Sinn darin, gegen solche
Formen zu rebellieren, so wie er ja auch nicht dagegen rebellierte, daß die
Haare auf seinem Kopf sich schon Jahre zuvor verabschiedet hatten. Übrigens mit
dem Ergebnis, daß er sich seiner ausgesprochen hübschen und wohlgestalteten
Kopfform hatte bewußt werden dürfen. Kein Schaden ohne Nutzen.
Mach glitt die Bücherwand entlang. Viele Titel, aber
keiner, der ihm ein Zeichen gab. Auch keiner, der sich zu verbergen schien gleich
Schülern, die sich ducken. Er kehrte zurück in die Küche, um Kaffee
nachzuschenken. Wie er da stand, ein wenig traumverloren, sah er zu einem Regal
hoch, wo zwischen zwei kompakte Emailgefäße eingeklemmt mehrere Kochbücher
aufgereiht waren. Erneut drückte er seinen Kopf gegen die Schulter und spitzte
seine Augen. Da war etwas, was nicht hingehörte, obwohl es sich durchaus um ein
Buch handelte. Er griff nach oben und zog einen kleinen, schmalen Band heraus.
Er drehte die Vorderseite in sein Blickfeld und las den Namen Robert Burton
sowie den Titel Die Anatomie der Melancholie.
Sollte das wirklich das Buch sein, fragte sich Mach, in
das er sich quasi einfügen mußte? Welches ihm helfen würde, dieser gewissen
Widerspenstigkeit des Schloßgarten-Mechanismus erfolgreich zu begegnen?
Stimmt, er selbst, Mach, war ganz sicher der Melancholie
verfallen. Von Kindheit an. Da war stets eine Schwermut gewesen, ein belastetes
Herz und eine belastete Seele, ein Schmerz auch ohne sichtbaren Grund. Er
konnte sich erinnern, daß ihm bereits als Vierjährigem oft die Tränen gekommen
waren, andere Tränen, als die, die flossen, wenn man sich das Knie aufschlug
oder ein Fernsehverbot einen mit grenzenloser Wut erfüllte, eine Scheißwut
gegen die Eltern, die sich im Rahmen ihrer pädagogischen Mickrigkeit nicht
anders zu helfen wußten, als völlig phantasielose Untersagungen auszusprechen.
Ihre Strafkultur war elendiglich gewesen. Durchaus zum Heulen. Aber es waren
eben völlig andere Tränen, die das Kind Wolf Mach tatsächlich geweint hatte und
die er sich auch nie hatte erklären können. Was wiederum seine Eltern wütend
gemacht hatte. "Was heulst du denn? Es ist doch nichts passiert."
Nun, es passierte die ganze Zeit etwas. Etwas Dunkles, Bedrohliches, ein
kosmischer Atem, giftig, schwefelig, bedrückend. - Er war kein richtig
Depressiver geworden, ein Melancholiker sehr wohl.
Wenn nun Mach dieses handliche Bändchen an sich nahm, dann
in der Hoffnung, das Schicksal habe ihm das richtige Buch
zugespielt, denn es gab ja wahrscheinlich für jeden Menschen genau ein richtiges
Buch. Der Rest wurde doch nur gelesen, weil die Zeit lang war oder weil man
sich durch Bücher eben in derselben Art müht, mit der man sich von einem
Therapeuten zum nächsten quält, von einem Orthopäden zum nächsten, bevor man
endlich dem passenden begegnet. Mach würde hingegen die Anatomie
der Melancholie so lesen, wie man eine
Gebrauchsanweisung liest. Dieses Werk würde ihm auf die eine oder andere Weise
helfen, die Maschine zu verstehen. Vielleicht lag die Antwort, wie
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