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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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man so sagt,
zwischen den Zeilen, vielleicht lag sie offen da. Vielleicht lag sie auch in
der Person Burtons: geboren 1577, gestorben 1640, dazwischen Engländer,
Schriftsteller, Gelehrter, Geistlicher. Nun, es würde sich herausstellen. Mach
war voller Zuversicht und begann augenblicklich zu lesen, allerdings nicht von
vorne nach hinten, sondern mittels des Inhaltsverzeichnisses einzelne Kapitel
aufschlagend.
    Er brauchte zwei Stunden, dann führte ihn seine Suche auf
die Seite 105. Das bisher Gelesene hatte ihn durchaus begeistert, aber Begeisterung
war ihm natürlich zuwenig. Den Leser zu begeistern, na, das war gewissermaßen
der Beruf aller Bücher, und sie versuchten es bei so gut wie jedem Leser,
selbst bei denen, die es kaum verdienten. Diese Begeisterung war somit noch
lange kein Zeichen dafür, daß ein bestimmter Leser und ein bestimmtes Buch
zusammengehörten. Auf den folgenden Seiten jedoch fühlte Mach eine Berührung,
er spürte, wie das Buch nach ihm griff, nicht auf eine zärtliche, nicht auf eine
poetische Weise, sondern wie man jemanden an der Schulter faßt, um zu
verhindern, daß dieser Jemand mit dem nächsten Schritt in eine Falle gerät. In
Fallen wie bei den Amazonasindianern oder wer auch immer diese zugespitzten
Pfähle verwendet.
    Dabei stand da nichts, was Mach sogleich hätte
unterschreiben können. Denn im Kapitel "Eltern - ein Grund für Melancholie
durch Vererbung" zeigt sich der Anglikaner Burton als Kritiker des
scheinbar natürlichen Rechts auf Fortpflanzung. Er gibt Fernelius recht, der klipp
und klar postuliert: "Eine gute Geburt ist die wichtigste Voraussetzung
für unser Lebensglück, und es wäre für die Menschheit insgesamt eine Wohltat,
wenn nur die an Körper und Geist Gesunden heiraten dürften."
    Das war für einen aufgeklärten und im humanistischen Ideal
großgewordenen Bürger des ausgehenden zwanzigsten und angehenden
einundzwanzigsten Jahrhundert schwer zu unterschreiben. Weil sich schließlich
die Frage stellte: Was ist Gesundheit? Und wer bitte schön ist überhaupt
gesund? Wer hat die Macht, dies zu bestimmen? Trotzdem, das Buch ließ nicht
mit sich handeln, blieb radikal, sprach von der "Lässigkeit in diesen
Dingen, die allen erlaubt, zu heiraten, wen sie wollen". Zudem wollte Mach
nicht leugnen, daß der Unterschied zwischen dem armen und dem reichen Kretin
der war, daß ein reicher Kretin es in der Hand hatte, als "weise und fähig"
dazustehen, eine gesellschaftliche Stellung zu besetzen, in welcher noch der
größte Unfug eine bedeutungsvolle Interpretation erfuhr, nicht zuletzt, indem
der Unfug hoch dotiert wurde. Daß solche Leute dann Kinder zeugten, an die sie
ihre betrügerische Ader weitergaben. Daß alles in dieser Welt wesentlich von
den Gesetzen des Vererbens bestimmt wurde, eben nicht nur Veranlagungen,
sondern auch Häuser, nicht nur Häuser, sondern auch Positionen.
    Was aber hatte das mit der Maschine unten im Schloßgarten
zu tun? War es möglich, diese Maschine als melancholisch zu begreifen? War ihre
Starre, ihr stures Festhalten an der Erde, auf der sie stand, ihr Schweigen, war
dies Ausdruck jener "schwarzen Galle", der Melancholie? War es eine
tiefe Traurigkeit, welche diese Maschine beherrschte? Wut gegen das Leben?
Vielleicht Wut über die Zustände, die da oben herrschten, bei denen, die sich
Menschen nannten, die sich ungebremst und schamlos vermehrten und sich vor
allem einbildeten, die Erfinder und damit auch die Beherrscher der Maschinen zu
sein?
    Um verständlich zu machen, warum er in diesem Maße für die
Burtonsche Denkwelt empfänglich war, muß nun erwähnt werden, daß es ein alter
Verdacht Wolf Machs war, ein Verdacht aus Kinderzeiten, daß ursprünglich auf
der Erde nur Maschinen existiert hatten. Aus dem einfachen Grund, weil Gott
eine Maschine war und er folgerichtig nach seinem Ebenbild andere Maschinen
geschaffen hatte: sterbliche, fehlerhafte, nicht zuletzt anmaßende Maschinen.
Ganz klar, daß die Anmaßenden unter den Maschinen sich dazu hatten verleiten
lassen, ihrerseits Geschöpfe zu kreieren: Pflanzen, Tiere, Menschen. Der Mensch
war ihnen auf gewisse Weise gelungen und auf gewisse Weise in die Hose
gegangen. Denn selbstredend stellte auch diese Konstruktion ein Spiegelbild
eigener technoider Art und Unart dar: zur Sprache fähig, aber ichbezogen und
eitel, vor allem blind gegen die wahren Verhältnisse. So blind, daß er, der
Mensch, bald begonnen hatte, sich gleichfalls für gottgewollt zu halten und mit
der

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