Steinfest, Heinrich
ihnen auch gerne
an die Herzkönigin aus Alice im Wunderland dachten,
die so oft "Runter mit dem Kopf!" schreit und dabei eine
grandios-feudale Hysterie auslebt, doch es wurde immer schwerer für diese
Möchtegern-Aristokratie, die Augen vor der Renitenz der Bürger zu verschließen.
Einer Bürgerschaft, die sich scheinbar - anders, als damals der in Versailles
einsitzende Hochadel - von keinen Lustbarkeiten, weder von Wein- oder
Volksfesten noch von Fußballspielen oder Fernsehshows ablenken, einlullen und
narkotisieren ließ und statt dessen unverdrossen ihre Liebe zu einem Bahnhof
kultivierte. Eine Liebe, die die Leute zusehends animierte, erst recht, als die
Bagger erste Wunden in den Gegenstand dieser Liebe schlugen.
Die Projektbetreiber waren somit gezwungen, immer mehr Vorhänge
zuzuziehen, aus immer weniger Fenstern zu sehen. Wie in einem Alptraum, wenn
sich ständig neue Türen öffnen. Nein, da waren keine devoten Untertanen, die
brav jene Wasserspiele in Betrieb setzten, an denen ihre Herrscher gerade zu
weilen pflegten. Es würde keinem der S-21er vergönnt sein, sich mit dieser
Illusion zur Ruhe zu begeben.
Die Frau im Spiegel
Mach hob seinen Kopf. Die Vögel stimmten ihr Morgenlied
an. Junges Licht schummelte sich zwischen die gebeugten Schatten einer sterbenden
Nacht. Wolf Mach schloß das Buch über Wesen und Gestalt der Melancholie und
verstaute es in der kleinen Umhängetasche, ohne die er niemals aus dem Haus
ging, darin das Foto jenes Wissenschaftlers, der als erster den
Antikythera-Mechanismus eingehend untersucht hatte. Diese Tasche hängte er sich
um, schlüpfte in seine Sportschuhe und trat auf die Straße.
Er bewegte sich hinüber zu dem Wagen, in dem die
androidenhaft schöne und unnahbare Kingsley saß. Offensichtlich hatten ihre
menschlichen Anteile einen kleinen Triumph eingefahren, denn bei aller
Geradheit, mit der sie da hinter dem Lenkrad saß, konnte Mach deutlich
erkennen, daß Kingsley schlief. Die Augen geschlossen, den Mund einen winzigen
Spaltbreit geöffnet, das ganze Gesicht wie ein stilles Meer, das kein Wind
rührt und das so glatt daliegt, daß man meint, man könnte darauf spazieren.
Aber natürlich wollte Mach nicht auf diesem Gesicht
spazieren, war vielmehr froh, endlich einmal der Beschattung Kingsleys zu entkommen.
Er schickte ihr einen tonlosen Gruß, bog um die Ecke und gelangte auf eine der
liebevoll Staffele genannten Treppen, die der Stadt ihre Stempel aufdrücken.
Diese aus den Weinbergstaffeln geborenen steilen Stadttreppen waren den Planern
von Neu-Stuttgart ebenfalls ein Dorn im Auge, und man hätte statt ihrer nur
allzu gerne ein System von Aufzügen installiert. - Das ist ohnehin die
Zukunft: Aufzüge, die im Freien stehen, die den antiquierten Fußmarsch durch
beengtes Stehen ersetzen, teure, wartungsanfällige Konstruktionen, die irgendwann
auch bis zum Mond reichen. Das Erfolgsrezept sogenannter Infrastrukturprojekte
liegt überhaupt in ihrer Wartungsanfälligkeit. Denn Dinge, die reibungslos
funktionieren, sind die Feinde der Wirtschaft.
Nun gut, noch durfte man mit Hilfe eigener Füße die
Treppen der Stadt nutzen. Und genau das tat Wolf Mach und erreichte über eine
Folge aus Staffelschanzen den Mittleren Schloßgarten. Er begab sich zum
Planetarium, das im aufsteigenden Tag an einen gefliesten Vulkan erinnerte.
Natürlich war Mach längst in der Lage und befugt, sich alleine Zugang zum
unterirdischen Bereich des Gebäudes zu verschaffen. Allerdings war er noch nie
versucht gewesen, dies zu tun. Zudem konnte er nicht sagen, inwieweit die
Öffnung der Außentüre zum Keplersaal zu dieser Uhrzeit einen Alarm in Gang
setzte. Das war glücklicherweise nicht der Fall. Ungehindert gelangte er
hinunter in den betonierten Stollen und schließlich in den Raum, in welchem im
Licht der Scheinwerfer jene geheimnisvolle Apparatur ihren Platz hatte, die ja
eigentlich seit der griechischen Antike an dieser Stelle stehen mußte, auch
wenn Griechenland damals wie heute ziemlich weit entfernt lag. Aber manches
und mancher kommt nun mal in der Welt herum, und wenigstens die Gegend auf der
anderen Seite der Stadt am Neckar - richtig, Cannstatt - war bereits in
vorgeschichtlicher Zeit besiedelt gewesen. Nicht von Griechen, das nicht, aber
die Ähnlichkeit des Schloßgarten-Mechanismus mit dem kleineren Antikythera-Mechanismus
bewies zunächst einmal nur die Verwandtschaft der Artefakte und nicht
unbedingt, daß sie aus der gleichen Produktion stammten.
Mach
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