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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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hatte sich das Demonstrationsantlitz deutlich
gewandelt: vielschichtig, widersprüchlich, der schwarze Block vereint mit
Bürgerdamen, Altachtundsechziger mit Leuten, die tatsächlich achtundsechzig
waren, fette, häßliche Weiber mit tausend Stickern auf dem groben Leinen ihrer
bodenlangen Kleider, andererseits junge und nicht mehr junge Schönheiten in
luftigen und eleganten Sommerkostümen. Es war schon so, wie in diesen großen
Aquarien mit sehr unterschiedlichen Fischen, wo sich mancher Zoobesucher fragt,
wieso da keiner den anderen frißt.
    Das Trillergepfeife, die "Oben bleiben! "-Chöre
und die "Lügenpack! "-Rufe fand Rosenblüt etwas strapaziös, doch
schließlich gaben sich all diese Leute ja auch Mühe, richtige Argumente
vorzutragen, indem sie nun eben diese Argumente, auf Papiere und Zettel notiert,
über die Absperrung warfen oder zwischen den Stäben hindurch auf dem Vorplatz
ablegten, und zwar zusammen mit alten Schuhen. Rosenblüt konnte nur vermuten,
daß diese Schuhe die mit Füßen getretenen Argumente verbildlichen sollten.
    Nachdem die Kundgebung vor dem Haupttor beendet war,
setzte sich die Menschenmenge nach und nach in Bewegung, um so lange auf der
Richard-Wagner-Straße weiterzugehen, bis sie sich in einer spitzen Kurve in die
Sonnenbergstraße entleerte, welche dann steil nach unten in die Stadt führte.
Klar, das Ziel war der Bahnhof, dessen geschundener Flügel.
    Allerdings kam der Marsch zunächst nur zögerlich in Gang,
weil einige der Leute noch Zettel vor der Villa Reitzenstein ablegten oder aber
die bereits abgelegten lasen. Andere schauten sich im Vorbeigehen die
Polizisten an, so, als wäre man im Wachsfigurenkabinett. Und auf eine gewisse
Weise war man das ja auch. Vor allem der Ministerpräsident, so hieß es, wäre
bei aller Virilität - einer nachgerade verzweifelt und tobsüchtig vorgetragenen
Virilität - nicht wirklich echt. Die Leute dachten wohl eher an eine Puppe.
Keine Maschine, das nicht. Nein, eine Puppe, in der sich andere Leute
versteckten, mal der, mal ein anderer, diverse Parteimitglieder oder
Wirtschaftsfunktionäre, die abwechselnd das Innere dieser Puppe besetzten.
    Rosenblüt stand ein Stück hinten, leicht erhöht am Gehweg,
und betrachtete die flanierende Masse. Er fühlte sich ziemlich erschlagen:
erhitzt und grippal und wetterfühlig. Die Gelenke. Darum war er froh, auszuruhen.
Einen Moment schloß er die Augen. Als er sie öffnete, blendete ihn ein weißer,
milchgeschäumter Streifen. Der Flug eines Insekts, das so nahe gekommen war,
daß er meinte, auf den Kondensstreifen dieses Insekts zu schauen. Er
blinzelte.
    Nun war es keineswegs überraschend, daß es in dieser Menge
von Menschen auch einige gab, die hinkten oder wenigstens einen hinkenden
Eindruck machten, welchem Umstand dies auch immer zu verdanken war. Rosenblüt
hätte sich schwerlich alle herauspicken können, deren Zweibeinigkeit nicht
ganz einwandfrei ausfiel. Und doch ... da war ein Mann. Es war eigentlich nicht
so, daß er Rosenblüt ins Auge stach, eher trübte seine Aura Rosenblüts Blick.
Eine banale Erscheinung: helle Anzugshose, kariertes Jackett, ein wenig schlottrig,
eine Spur abgetragen, aber sehr sauber, dazu die leicht gebeugte Haltung des
Nicht-mehr-ganz-Jungen, Hut und Brille. Am Revers trug er einen der typischen
gelblichgrünen Buttons der Protestbewegung. Dunkle Krawatte, cremefarbenes
Hemd, die Creme von gestern. Einer von den Bürgerlichen, wie man sie in dieser
Bewegung so oft sah: alles brave Steuerzahler, denen man schwerlich vorhalten
konnte, noch nichts im Leben geleistet zu haben. Weshalb man ihnen eben
vorwarf, überhaupt den Mund aufzumachen, wo sie doch ohnehin kaum noch zwanzig
Jahre auf der Welt sein würden, um als Frühpensionierte oder Rentner noch eine
Weile herumzuschmarotzen. Aber jetzt die Zukunft anderer verhindern wollen! Ha
no!
    Der besagte "banale" Mann verstärkte seine
gebeugte Haltung, ging dabei langsam in die Knie und schob einen Zettel durch
die Absperrung, um ihn zwischen einigen anderen zu plazieren. Ein ganz normaler
Vorgang in dieser Situation. Dann setzte er seinen Weg fort. Dabei zog er das
linke Bein etwas nach, wie man das manchmal bei Kindern sieht, die an der Hand
geführt werden. Nicht, daß sie bockig wären, nur müde.
    Auf das Phantombild des Zeichners, das nach Sami Aydins
Angaben entstehen sollte, wartete Rosenblüt noch. Es war also nicht so, daß
dieses Gesicht dort drüben außer seiner ungefähren Sechzigjährigkeit

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