Steinfest, Heinrich
unserer Knallchargen eingeschleust - wenn nicht dort, wo
dann? -, und außerdem haben wir das Problem, daß ein Hinkender, der steht oder
sitzt, und es wird ja viel gestanden oder gesessen, sich kaum verrät."
Landau gab zu Bedenken, daß bei diesen Veranstaltungen die
Leute nicht nur vor dem Bahnhof demonstrieren würden, sondern sich immer
wieder angemeldete und auch nicht angemeldete Märsche durch die halbe Stadt
ergäben.
"Lundquist marschiert nicht", sagte Rosenblüt
so, als ob er es schwarz auf weiß hätte. "Er sitzt."
"Jeder muß mal gehen", widersprach die
Kriminalhauptmeisterin.
Worauf Rosenblüt einwandte: "Er könnte raffiniert
genug sein, in einem Rollstuhl herumzufahren. Außerdem stellt sich bei so
vielen Menschen die Frage, wie viele von ihnen hinken. Oder wie viele auf eine
Weise zu gehen pflegen, die man als ein Hinken interpretieren könnte."
"Das heißt?"
"Daß wir einen Phantomzeichner zu Aydin schicken
werden."
"Sie wissen aber schon, daß man das heutzutage mit
Hilfe von Computern macht, oder?"
"Am Computer ist das aber keine Kunst. Außerdem will
ich nicht, daß Aydin zum Kommissariat muß. Niemand dort soll von ihm erfahren.
Nein, ich habe in Stuttgart einen alten Freund, einen wunderbaren Zeichner,
der soll das machen."
Daß Rosenblüt den Waffenhändler Aydin schützte, ihn aus
den offiziellen Ermittlungen heraushielt, nun, das hatte er versprochen, und
es war nicht ohne Sinn; daß er aber die Kunst der Grafik, händischer Grafik, in
diesem Moment hochhielt, das war schon erstaunlich. Es wirkte wie ein Spleen,
ein Aufbegehren gegen das technische Zeitalter. Ja, Rosenblüt argumentierte
sogar mit der Notwendigkeit, daß ein Phantomzeichner eine persönliche
Interpretation, einen gewissen akzentuierenden Ausdruck einbringe, selbst
gegen den Willen und die Beschreibung des Zeugen. Denn auch der Phantomzeichner
sei ein Künstler, welcher dank seiner Eingebung ein Gesicht mit einer Note
ausstatte, auf die der Betrachter erst durch die Kunst aufmerksam gemacht
werde - was kein Foto zu leisten imstande sei.
Ob derlei Eigenwilligkeit schüttelte Landau amüsiert den
Kopf. Allerdings gestand sie sich insgeheim ein, daß Rosenblüts Insistieren
auf den Einfluß der "Kunst" auf eine gewisse Weise richtig cool war.
Übrigens sollte noch erwähnt werden, daß es natürlich in
allen Geschichten neben den offensichtlichen und zusehends offensichtlicher
werdenden Fäden, welche gewisse Dinge und Menschen und Handlungen verbinden,
es auch die nicht so offensichtlichen gibt, deren Sinnhaftigkeit einzig aus
sich selbst zu bestehen scheint. So auch in dieser Geschichte, in der ein
solcher Faden - so gut wie unsichtbar, erkennbar nur durch seinen Schatten -,
ein solcher Faden sich über eine große Entfernung erstreckte und Doktor Thiel
mit Hans Tobik verband: Beide hatten sich geweigert, jenen Projektsprecher von
Stuttgart 21 bei seinem richtigen Namen zu nennen; Thiel hatte sich für "York"
und Tobik für "Ratcliffe" entschieden. Dieser Umstand alleine wäre
freilich nicht imstande gewesen, einen Faden zu erzeugen, auch keinen
unsichtbaren. Allerdings war es nun so, daß der historische Ratcliffe als enger
Vertrauter Richards III. dem Hause York angehörte und wie auch sein Meister und
König für eben dieses Adelsgeschlecht in der Schlacht von Bosworth sein Leben
gab. Somit konnte man also sagen, daß der Name York sowie der Name Ratcliffe
eine sehr feine, sehr dünne, luzide Textilie bildeten, zwei zu einem Strang
verbundene Fasern, die zwischen Thiel und Tobik hin- und herschwangen, ohne daß
der eine Mann den anderen Mann gekannt hätte.
Aber etwas nicht zu wissen,
verändert nicht die Wirklichkeit, obwohl man manchmal diesen Eindruck bekommen
könnte.
Ein Hund steht still
Als ich noch klein war, dachte ich immer, mutig zu sein
bedeutet, etwas Besonderes zu tun und daß man Courage braucht, um im Leben
vorwärtszukommen. Dabei ist das einzige, wofür man Courage benötigt,
stehenzubleiben. Daniel Craig in Baillie Walshs Film Flashbacks
of a Fool
Der erste Septembertag. In der Sonne noch der Sommer, im
Schatten schon der Herbst. Überall Menschen, die ihre Jacken spazieren trugen,
um für den Fall vorbereitet zu sein, einmal länger ins Kühle zu geraten.
Ohnehin war der August derart verregnet gewesen, daß man hätte meinen können,
das Land sei der Tristesse schwermütiger Wettergötter zum Opfer gefallen.
Rosenblüt hatte sein Handy am Ohr. Es war Aneko, die aus
Paris
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