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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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einen
Hinweis hätte geben können. Dennoch verließ Rosenblüt seinen Aussichtsplatz.
Kepler hingegen blieb sitzen. Die meiste Bewegung kommt ohnehin zu früh. Und in
der Tat drängte sich sein sogenanntes Herrchen ja bloß zu der Absperrung hin,
um sich über das Gitter zu lehnen und jenen Zettel zu betrachten, der da soeben
abgelegt worden war.
    Im Grunde hätte es ein Papier von mehreren sein können, so
ganz genau hatte Rosenblüt nicht verfolgen können, wo exakt der Mann es
hingetan hatte. Etwa vier Stück kamen in Frage. Wäre jetzt auf sämtlichen
dieser vier das Übliche und allseits Bekannte notiert gewesen, der Hinweis auf
die Geldverschwendung, auf die geologischen Probleme, den Qualitätsverlust der
Stadt, die Unsinnigkeit einer überholten Architektur, nun, dann wäre Rosenblüt
wahrscheinlich einfach wieder zu Kepler zurückgekehrt, um noch ein wenig
inmitten dieser Versammlung vor sich hinzudösen. Und es war ja auch so, daß
drei von den Kommentaren in der obligaten Weise formuliert waren. Ein Text
jedoch sprang heraus aus der Konvention. Er war mit großzügigen, runden
Lettern auf ein quadratisches, bräunliches Papier geschrieben worden:
     
    Erst mit der Angst wird der Mensch zum Menschen.
    Wer jedoch Angst nur verbreitet, aber nie empfindet,
    dem sollte sie gebracht werden. Damit er Mensch wird.
     
    Rosenblüt hob den Zettel hoch und legte seine Stirn in
Falten. Was war davon bloß zu halten? Nun, in jedem Fall widersprachen die wenigen
Zeilen der Aufforderung der Organisatoren dieser Protestaktion, dem Herrn
Ministerpräsidenten Argumente gegen das Projekt vorzulegen. Vielmehr stellten
sie eine Drohung dar. Eine Drohung, die wie das andere Zettelzeug hier ... ja,
wahrscheinlich nicht mal im Altpapier gelandet wäre, sondern zusammen mit all
den abgetragenen Schuhen im Hausmüll des Staatsministeriums. Kaum jemand würde
sich die Mühe machen, die Blätter brav zu sortieren und auf mögliche künftige
Straftaten hin zu analysieren. Um wen anzuklagen? Herrn Anonymus?
    Rosenblüt faltete das Papier ordentlich zusammen, steckte
es ein und winkte mit dem Kopf Kepler zu sich. Welcher sich mit einer gähnenden
Bewegung aus seiner Sitzposition löste, einen Moment den Strom der
Vorbeiziehenden unglücklich betrachtete, sich dann aber einen Ruck gab und an
vielen fremden Beinen vorbei zu Rosenblüt gelangte.
    "Gehen wir", entschied der Kommissar.
    Sie gingen. Der Mann, der den Zettel geschrieben hatte,
war zwischenzeitlich außer Sicht geraten. Doch Rosenblüt war überzeugt, ihn in
dieser dahinschlendernden Menge leicht wiederzufinden. Und tatsächlich
brauchte es nicht lange, da erkannte Rosenblüt die mittelgroße und mittelgraue
Gestalt, die Unregelmäßigkeit des Gangs, die latente Verspätung eines zweiten
Beins.
    Als die Straße nun begann, steil bergab zu führen, zog
sich die Menge noch etwas weiter auseinander. Ein fröhlicher Volksmarsch, so
schien es. Eigentlich hätte Rosenblüt jetzt nach rechts abbiegen müssen, um
gemäß seiner Planung die Adiuncten zu erreichen. Auch war er sich ziemlich
unsicher darüber, wie sinnvoll es war, diesem Mann zu folgen, nur weil er ein
wenig in das Muster der Person paßte, die bei Sami Aydin ein
Scharfschützengewehr erstanden hatte. Und selbst wenn dies der Fall war, hieß
das noch lange nicht, daß er selbiges Gewehr wirklich benutzt hatte, um
vorerst mal nicht einen Menschen, sondern bloß ein Foto zu erschießen. - Wäre
auf dem Zettel etwas gestanden wie "Stuttgart 21 ist ein Milliardengrab"
oder "Mehr Geld für Schulen, mehr Geld für Krankenhäuser" oder sogar "Krieg
den Grasdackeln, Friede den Kopfbahnhöfen", dann wäre Rosenblüt jetzt
wahrscheinlich abgebogen, um Professor Fabian oder einem seiner Bundesbrüder
ein paar zwingende Fragen zu stellen. Aber dieser merkwürdige Hinweis auf eine
Menschwerdung mittels des Gefühls von Angst trieb ihn dazu an, dem mutmaßlichen
Zettelschreiber hinterherzulaufen und eingesponnen in das Strickmuster der "Oben
bleiben!"-Rufer in den Kessel der Stadt zu tauchen.
     
    Auf der Höhe des Charlottenplatzes zog sich der
Demonstrationszug wieder zusammen und nahm erneut die gewohnt enge, dichte Form
an. Die Zugangswege zum Landtag waren abgesperrt, Scharen von Polizisten
bildeten lebendige Zäune. - Das alte Dilemma, daß die Polizei nicht das Volk,
sondern deren Vertreter beschützte. So war es überall, und es war normal, denn
die Exekutive war nun mal die tentakelförmige Erweiterung eines

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