Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
mach ich. Aber nicht heute Abend, okay?»
«Lass dir Zeit, mein Liebes.»
«Darf ich mein Schneesternkleid anprobieren, bevor ich ins Bett gehe?», fragte Stella.
«Unbedingt. Und ich mache ein paar Fotos.»
Das blaue Seidenkleid war Stella zu groß, aber sie liebte es trotzdem. Der Gedanke, dass der goldene Faden, mit dem es zusammengenäht war, ihrer Urururgroßmutter Sonja gehört hatte, dass ihre Ururgroßmutter Galja den Faden benutzt hatte, um von Hand einen Wandbehang zu nähen, dass ihre Urgroßmutter Channa den Wandbehang zu einem Vorhang und dann in eine Tischdecke umgeändert hatte, die ihre eigene Großmutter wiederum zu einem Klavierschal und dann einen Wiegenhimmel und eine Decke umgearbeitet hatte, und jetzt in ein Kleid – also, wenn Stella an all das dachte, wurde ihr ganz schwindelig! Aber es gab ihr auch ein vages Gefühl von … ja, wovon eigentlich? Für Stella mit ihren gerade mal dreieinhalb Jahren war es nicht leicht, das Gefühl genau zu benennen. Aber wenn sie es gekonnt hätte, dann hätte sie vielleicht gesagt, es gebe ihr das Gefühl, ein Teil von etwas zu sein, zu etwas zu gehören, das größer war als sie selbst.
«Du wächst noch in das Kleid hinein», sagte Josephine und machte ein Foto von ihrer Enkeltochter. «Du kannst es noch ein paar Jahre anziehen.»
«Aber nur zu besonderen Anlässen», sagte Stella und beobachtete, wie der Satin das orangerote Licht der untergehenden Sommersonne auffing. Sie fand es toll, dass der Stoff ein bisschen wie Wasser aussah – mit Sternen und Schneeflocken, die sich in seiner wirbelnden Oberfläche spiegelten.
Josephine umarmte Stella. «Ja. Nur zu besonderen Anlässen.»
Stella trug das Kleid zu Mats viertem Geburtstag und zu einer CD -Präsentation der Princes of Prussia im Tonstudio Botown, wo ihr Vater als Toningenieur arbeitete. Stella zog das Kleid zur Einschulung ihres Bruders Marco an, und als Oma Josephines älteste Freundin, Elisabeth Brunnen, nach einer Hüftoperation im Krankenhaus lag, besuchte Stella sie in dem Kleid. Stella konnte es tatsächlich noch ziemlich oft anziehen. Ein paar Mal zerriss das Kleid, doch Oma Josephine konnte es jedes Mal wieder reparieren. Auch an der Taille war es einmal ausgelassen und der Saum zweimal verlängert worden. Als Stella fünf wurde, blieb immer noch ein bisschen Platz zum Wachsen. Aber dann – o Schreck! – schlug das Unheil zu.
Zehntes Kapitel D ie Jetlaggerin
An einem frostigen Samstag mit gleißend hellem Licht, tiefblauem Himmel und der Aussicht auf Schnee gegen Spätnachmittag saß Stella Alisa Menzel in einer stickigen New Yorker Synagoge beim Gottesdienst einer Bar Mizwa. Draußen war es kalt, februarkalt, aber innen war es warm, einschläfernd warm, und sehr voll. Einige ältere Mitglieder der Gemeinde schnarchten hinten leise – und einige auch nicht so leise. Ein oder zwei Babys dösten in einem Buggy. Die älteren Kinder kämpften gegen ihre Müdigkeit.
Marco zwickte Stella in den rechten Oberschenkel, und ihre Augen flogen erschrocken auf. Sie versetzte ihrem Bruder einen Stoß mit dem Ellbogen.
«Du hast geschlafen», fauchte er.
«Nein, hab ich nicht! Ich hab meine Augen ausgeruht.»
Stellas Vater warf den Kindern einen strengen Blick zu. Stella drehte sich weg und schaute geradeaus. Der Kantor sang auf Hebräisch, aber wegen der Köpfe vor ihr konnte sie ihn kaum sehen. Sie verstand ohnehin kein Wort von dem, was er sang. Sie verstand ein kleines bisschen Russisch und ziemlich gut Englisch, weil das in ihrem Kindergarten gesprochen wurde, aber Hebräisch? Obwohl ihre Eltern selten in die Synagoge gingen, sah es aus, als ob zumindest sie wüssten, was da vor sich ging. Aber vielleicht taten sie nur so. Erwachsene konnten das gut.
Stella betrachtete ihr Kleid. Der Ansatz am Saum, ein silbergraues Seidentaftband, das Oma Josephine vor kurzem angenäht hatte, roch noch immer neu. Stella beugte sich nach unten, um einen Hauch zu riechen; dabei tat sie so, als würde sie ihren Schuh richten. Mm.
Sie setzte sich wieder auf, wirbelte den Stoff herum und beobachtete, wie die Sterne und Schneeflocken die Sonne auffingen und schimmerten. Sie mochte es, wenn der Satin leise
Schhhh
machte, besonders mit dem Petticoat darunter. Oma nannte das «rascheln».
Oh-oh. Stella spürte die Augen ihrer Mutter auf sich. Sie hörte auf zu rascheln. Sie hatte ihrer Mutter und ihrer Großmutter versprochen, mit dem Kleid vorsichtig umzugehen. Isabel hatte Angst, Stella
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