Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
überlegte, wie es wohl war, wenn man mit dreizehn über Nacht zum Mann wurde, und auch noch zu einem reichen. Sie fing Bens Blick auf, und er lächelte ihr mit einem Mundvoll Zahnspangen zu. Sie wollte sich wieder zu Shawna umdrehen, aber jemand packte sie von hinten und wirbelte sie herum. Es war ihre Großtante Leah. «Darling!», sagte Leah zu ihr. «Wie bist du groß geworden!» Sie kniff die Augen zusammen, als sie Stellas Kleid bemerkte. «Warum kommt mir dieses Kleid so bekannt vor?»
Stella wollte ihr gerade erzählen, dass es der Wandbehang war, den Galja, Tante Leahs Großmutter, vor fast hundert Jahren in Russland genäht hatte, aber Großtante Leah fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar, drehte sich zu Isabel herum, die gerade zu ihnen gekommen war, und sagte: «Was sind das für schöne rote Locken!»
Oje. Stella wusste, was jetzt kam. Ihre Großtante würde sie fragen, wo um Himmels willen sie bloß diese schönen roten Locken herhatte. Ihr Vater hatte ihr vor einiger Zeit gesagt, wie sie auf diese Frage antworten sollte, wenn sie einen sicheren Lacher ernten wollte. Es funktionierte immer.
Großtante Leah holte zum entscheidenden Schlag aus und kniff Stella in die Wange. «Darling», sagte sie, «wo um alles in der Welt hast du bloß diese umwerfenden roten Locken her?»
«Vom Briefträger», erwiderte Stella.
Isabel seufzte. Irgendwann würde sie ihren Mann erwürgen.
Großtante Leah brach in Gelächter aus, dann biss sie in ein Stück Zopfbrot, das
Challa
genannt wurde. «Ich bin am Verhungern», sagte sie.
Das waren alle anderen auch. Die Gemeinde stürzte sich auf den
Kiddusch
wie die Heuschrecken auf Ägypten. Nach wenigen Minuten war das Buffet, bestehend aus Frischkäse, Lachs, Bagels, verschiedenen Salaten,
Kugel
mit süßen Nudeln und frischem Obst weggeputzt. Als nur noch ein paar einsame Matjesheringe übrig waren, schwärmte die Menge satt und zufrieden in die Kälte hinaus, um den festlichen Tag anderswo fortzusetzen.
Die Menzels aus Berlin und die Zwickels aus Kalifornien erschienen zusammen im Festsaal des Hotels, wo die Bar-Mizwa-Feier am Abend stattfinden sollte. «Oh, ist das schön!», riefen Stella und Shawna aus, als die Gruppe zum Treffpunkt kam, einem Rundbogen bestehend aus Aberhunderten Ballons mit Schneeflockenmuster. Sie stellten sich in eine lange Reihe. Einer nach dem anderen wurde von der Bar-Mizwa-Familie begrüßt und blieb dann vor dem Bogen stehen, um sich von einem jungen Mann mit Pferdeschwanz und weißem Frack fotografieren zu lassen. Anschließend wurden sie durch den Bogen in den Festsaal geleitet.
Der Fotograf war gerade dabei, Stella zu fotografieren, und positionierte sie vor dem Bogen. Isabel fand, dass ihre Tochter müde aussah. Sie drehte sich zu ihrem Mann. «Sie wird beim Essen vom Stuhl fallen. Ich weiß es. Sie ist komplett aus dem Rhythmus. Der Jetlag …»
«Mach dir keine Sorgen. Ich habe ihr vorhin eine Tasse starken schwarzen Kaffees eingeflößt.»
«Wie bitte?», sagte Isabel entsetzt.
Mikhail liebte seine Frau sehr, aber manchmal fragte er sich, ob sie vielleicht in der falschen Schlange gestanden hatte, als Gott den Sinn für Humor verteilte. «War doch nur Spaß», murmelte er.
Der Fotograf machte mehrere Aufnahmen von Stella. «Tolles Kleid!», sagte er. «Passt perfekt zum Partythema.»
«Partythema?», fragte Mikhail.
«Winter-Wunderland», sagte Ben, der Bar-Mizwa-Junge. «Schnee, Iced Cappucinos, Iglutorte mit Eisblümchen, die ganze Palette.»
«Ben liebt Wintersport», sagte seine Mutter Nancy. «Er spielt in einer Eishockeymannschaft. Und er fährt gern Ski und Snowboard. Deshalb dachten wir, ein Winterthema wäre das Beste.»
«О, боже мой!», sagte Mikhail knapp auf Russisch zu sich, was so viel bedeutete wie: «Das darf doch nicht wahr sein, von so was habe ich in meinem Leben noch nicht gehört, ich kann’s kaum glauben, dass ich richtig gehört habe, aber die scheinen das ernst zu meinen, um Gottes willen, Mama mia, oje, oje, oje.» Dann drehte er sich zu seiner Frau und senkte die Stimme. «Seit wann haben Bar-Mizwa-Feiern
Themen
? Reicht es denn nicht, dass es eine Bar Mizwa ist?»
Der Festsaal – fünfzehn runde Tische, jeweils mit zehn blauen, kunstledergepolsterten Stühlen bestückt und kreisförmig auf dem Parkettfußboden angeordnet – stellte eine Polarlandschaft dar. Überall reckten sich große, weiß gestrichene Kunstbäume aus einem Bett glitzernden weißen Lamettas, das an
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