Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
Mama.»
Josephine wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, deshalb tat sie beides. Und als sie fertig war, wusste sie, dass sie die blaue Satintischdecke mit nach Berlin nehmen musste. Sie packte sie in ihren Koffer. Aber irgendwo zwischen London, Frankfurt und Berlin ging ihr Koffer verloren. Die Tischdecke war verschwunden.
Josephine aber hatte Vertrauen. Sie kannte die Geschichte des Wandbehangs und wusste, er hatte etwas ganz Wundersames an sich. Er würde zu ihr zurückfinden.
Und sie behielt recht.
Der Koffer war drei Wochen als vermisst gemeldet, da wurde er im isländischen Reykjavik gefunden. Wie er dort hinkam, weiß niemand, aber bei seiner Ankunft in Berlin war er innen feucht geworden und der Seidensatinstoff kalt und steif wie eine Eisplatte. Nachdem er aufgetaut war, versuchte sich Josephine an den Schuhcremeflecken, aber wie es aussah, war weiße, flüssige Schuhcreme von 1949 eindeutig für die Ewigkeit gemacht. Und wen kümmerten schon die Flecken? Josephine beschloss, dass der Wandbehang einen hübschen Klavierschal für Arturs Steinway abgeben würde.
Tage, Monate und ganze Jahre verstrichen. Josephine unterrichtete Englisch und Deutsch an einem Gymnasium in Charlottenburg. Ihre Tochter Isabel wurde vierzehn.
Isabel, ein vielbeschäftigter Teenager, dem es an Freunden nicht mangelte, plagte sich immer noch am Klavier. Es wurde so schlimm, dass sie selbst den Anblick des blauen, satinseidenen Klavierschals kaum ertragen konnte – «ich hasse diesen blöden alten Lappen», sagte sie oft. Sobald ihre Mutter den Sternen- und Schneeflockenstoff beiseitenahm, um den Deckel des Klaviers zu öffnen, stapfte Isabel aus dem Zimmer und rief: «Ich will nicht! Nein! Nein!» Es war nicht zu überhören, sie wollte keine Klavierstunden.
Stella schoss vom Sofa hoch. «Ich will nicht. Nein! Nein!», machte sie ihre Mutter nach und stapfte durchs Wohnzimmer. «Mama war ein böses Mädchen», sagte sie dann zu Josephine.
«Nein, Liebes. Das stimmt nicht. Sie wollte nur nicht Klavier spielen.»
Stella dachte kurz darüber nach, dann setzte sie sich wieder.
«Und was ist dann passiert?», fragte sie.
Irgendwann gaben Josephine und Artur ihre Träume von der musikalischen Karriere ihrer Tochter auf. Immerhin hatte Isabel andere Qualitäten. Die Leute mochten sie. Sie war zuverlässig und gewissenhaft, und sie wusste sehr viel. Sie gab ihren Freundinnen Tipps, wo man sich Ohrlöcher stechen lassen konnte, wie die Löcher zu pflegen waren, wo es Ohrringe in Form von Sicherheitsnadeln gab, wie man Haare natürlich färben konnte (Henna für rotes Haar, Kaffee, um blondes Haar dunkler, Zitronensaft, um dunkles Haar heller zu machen) und was zu tun war, wenn man nach einer Party Bieratem hatte. Es überraschte nicht, dass Isabel eine Laufbahn als Apothekerin anstrebte. Angesichts ihrer Abneigung gegen das Klavier ist es allerdings verwunderlich, dass sie jemanden aus dem Musikgeschäft heiratete.
Vielleicht aber auch nicht.
Achtes Kapitel D er Glaspantoffel
Isabel Zwickel hatte es nicht sonderlich eilig zu heiraten. Die meisten jungen Pharmaziestudentinnen, die sie an der Uni kannte – Frauen, die zu Vorlesungen gestärkte Blusen mit Nadelstreifen trugen, enge Röcke und elegante Perlenohrringe –, hatten allerdings nichts anderes im Sinn. Nur deshalb hatten sie schließlich Pharmazie gewählt. Es war ein anständiger, gut bezahlter Beruf mit flexiblen Arbeitszeiten, man musste dafür nicht ewig studieren, und auch als Frau mit Familie konnte man ihn gut ausüben. Isabel dagegen hatte ihn ausgesucht, weil es ihrer Ansicht nach die vernünftigste Wahl war, wenn man Freude an Chemie hatte, Menschen mochte und anderen helfen wollte, gleichzeitig aber nicht so hart arbeiten wollte wie diese armen Ärzte, um Himmels willen!
Mit dreißig hatte Isabel schon eine Ausbildung in Krebsforschung hinter sich, ein Labor mit fünfzig Angestellten geleitet, in einer Stadtapotheke in belebter Lage Schichtdienst geleistet und machte sich gerade Gedanken darüber, ob sie nicht ihre eigene Apotheke aufbauen sollte, als Mikhail Menzel in ihr Leben trat.
Wie in so vielen Märchen trafen sich Isabel und Mikhail auf einem Ball.
Mikhail war ein junger Tontechniker aus Moskau, der unter einer ganzen Traube von Glückssternen geboren war, wie er sagte. Dass man ihn als Juden in Russland eine Ausbildung zum Toningenieur hatte machen lassen, hatte er seinem ersten Glücksstern zu verdanken. Sein
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